Die Philosophie
Vorrede.
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RP(I), a-b
In dieser Schrift wird der Versuch gemacht, die Entwickelung der Welt- und Lebensanschauungen von Goethe und Kant bis zu Darwin und Haeckel darzustellen. Diese Entwickelung stellt sich als ein gewaltiges Ringen des menschlichen Geistes dar, das im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts mit der kühnsten Entfaltung der Denkkraft behufs Lösung der großen Rätselfragen des Daseins begann, und das in der Vertiefung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit eine vorläufige Befriedigung sucht.
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In zwei Bände zerfällt diese Schrift. Der vorliegende behandelt die ersten fünf Jahrzehnte des Jahrhunderts, in denen die Geister bestrebt waren, aus sich selbst heraus die Wahrheit zu holen. Man könnte diesen Zeitabschnitt die idealistische Periode nennen. Der zweite Band wird das Zeitalter der Naturwissenschaft, die realistische Periode, zum Gegenstande haben. Sie trachtet durch Verwertung der bedeutsamen Fortschritte, welche die Beobachtung der Thatsachen in den letzten fünf Jahrzehnten gemacht hat, den Welträtseln nahe zu kommen.
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Der Verfasser giebt sich der Hoffnung hin, daß wegen seines Strebens nach einer leicht faßlichen, populären Darstellungsweise, die dem Buche in weitesten Kreisen Eingang verschaffen soll, die Kenner der Weltanschauungsentwickelung unseres abgelaufenen Jahrhunderts nicht übersehen werden, daß er mit aller Strenge den in Betracht kommenden Fragen nachzugehen suchte. Sie werden finden, daß hier eine Reihe neuer Gesichtspunkte gewonnen worden ist, wenn sie z. B. die Darstellung der Kantschen, Goetheschen, Fichteschen, Hegelschen und Stirnerschen Weltanschauung mit anderen geschichtlichen Auseinandersetzungen desselben Gegenstandes vergleichen. |b
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Vor allen Dingen wurde angestrebt, jeder Persönlichkeit, die sich an dem Aufbau der modernen Weltanschauung beteiligt hat, ihr volles Recht zu teil werden zu lassen. Ich stehe mit meinen eigenen Anschauungen in vollem Einklange mit den Ergebnissen, zu denen der größte Naturforscher der Gegenwart, Ernst Haeckel, gelangt ist. Ich habe auf diesen Einklang besonders in meiner »Philosophie der Freiheit« hingewiesen, und darf es mir zur Ehre anrechnen, daß Ernst Haeckel, der soeben in seinem Werke »Die Welträtsel« sein Ideengebäude allseitig ausgeführt hat, die Widmung meines Buches angenommen hat. Das wahre Verständnis dieser modernen Weltanschauung wird dadurch wesentlich gefördert werden, daß man sich auch in die entgegengesetzten Gedanken vorurteilslos vertieft. So kommt in diesem Buche z. B. die Ansicht Schellings in einer Art zur Sprache, der man, wie ich glaube, nicht einmal anmerkt, daß ein entschiedener Gegner redet. Um treue geschichtliche Erörterungen, nicht um einseitige Kritik war es mir zu thun; und ich würde mich glücklich schätzen, wenn Kundige fänden, daß meine scharf ausgeprägte eigene Weltanschauung mir der Blick für die Gedanken Anderer nicht getrübt, sondern geschärft habe.
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Berlin, im Februar 1900.
Rudolf Steiner. |