Die Philosophie
Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:
Goethes
naturwissenschaftliche
Schriften
Goethes
naturwissenschaftliche
Schriften
XVIII. Goethes Weltanschauung
in seinen »Sprüchen in Prosa«
EG, 253-256
Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur freiwillig seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt, dass sie, um die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen, Triebkräfte braucht, die sie dem Beobachter zunächst verbirgt. Die Natur spricht ihr letztes Wort nicht selbst aus. Unsere Erfahrung zeigt uns, was die Natur schaffen kann, aber sie sagt uns nicht, wie dieses Schaffen geschieht. In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mittel, die Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschengeiste steigen die Ideen auf, die Aufklärung darüber bringen, wie die Natur ihre Schöpfungen zustande bringt. Was die Erscheinungen der Aussenwelt verbergen, im Innern des Menschen wird es offenbar. Was der menschliche Geist an Naturgesetzen erdenkt: es ist nicht zur Natur hinzu erfunden; es ist die eigene Wesenheit der Natur, und der Geist ist nur der Schauplatz, auf dem die Natur die Geheimnisse ihres Wirkens sichtbar werden lässt. Was wir an den Dingen beobachten, das ist nur ein Teil der Dinge. Was in unserem Geiste emporquillt, wenn er sich den Dingen gegenüberstellt, das ist der andere Teil. Dieselben Dinge sind es, die von aussen zu uns sprechen, und die in uns sprechen. Erst wenn wir die Sprache der Aussenwelt mit der unseres Innern zusammenhalten, haben wir die volle Wirklichkeit. Was wollten die wahren Philosophen aller Zeiten? Nichts anderes als das Wesen der Dinge verkünden, das diese selbst aussprechen, wenn der Geist sich ihnen als Sprachorgan darbietet.
Wenn der Mensch sein Inneres über die Natur sprechen lässt, so erkennt er, dass die Natur hinter dem zurückbleibt, was sie vermöge ihrer Triebkräfte leisten könnte. Der Geist sieht das, was die Erfahrung enthält, in vollkommenerer Gestalt. Er findet, dass die Natur ihre Absichten mit ihren Schöpfungen nicht erreicht. Er fühlt sich berufen, diese Absichten |254 in vollendeter Form darzustellen. Er schafft Gestalten, in denen er zeigt: dies hat die Natur gewollt; aber sie konnte es nur bis zu einem gewissen Grade vollbringen. Diese Gestalten sind die Werke der Kunst. In ihnen schafft der Mensch das in einer vollkommenen Weise, was die Natur unvollkommen zeigt.
Philosoph und Künstler haben das gleiche Ziel. Sie suchen das Vollkommene zu gestalten, das ihr Geist erschaut, wenn sie die Natur auf sich wirken lassen. Aber es stehen ihnen verschiedene Mittel zu Gebote, um dies Ziel zu erreichen. In dem Philosophen leuchtet ein Gedanke, eine Idee auf, wenn er einem Naturprozess gegenübersteht. Diese spricht er aus. In dem Künstler entsteht ein Bild dieses Prozesses, das diesen vollkommener zeigt, als er sich in der Aussenwelt beobachten lässt. Philosoph und Künstler bilden die Beobachtung auf verschiedenen Wegen weiter. Der Künstler braucht die Triebkräfte der Natur in der Form nicht zu kennen, in der sie sich dem Philosophen enthüllen. Wenn er ein Ding oder einen Vorgang wahrnimmt, so entsteht unmittelbar ein Bild in seinem Geiste, in dem die Gesetze der Natur in vollkommenerer Form ausgeprägt sind als in dem entsprechenden Dinge oder Vorgange der Aussenwelt. Diese Gesetze in Form des Gedankens brauchen nicht in seinen Geist einzutreten. Erkenntnis und Kunst sind aber doch innerlich verwandt. Sie zeigen die Anlagen der Natur, die in der blossen äusseren Natur nicht zur vollen Entwicklung kommen.
Wenn nun in dem Geiste eines echten Künstlers ausser vollkommenen Bildern der Dinge auch noch die Triebkräfte der Natur in Form von Gedanken sich aussprechen, so tritt der gemeinsame Quell von Philosophie und Kunst uns besonders deutlich vor Augen. Goethe ist ein solcher Künstler. Er offenbart uns die gleichen Geheimnisse in der Form seiner Kunstwerke und in der Form des Gedankens. Was er in seinen Dichtungen gestaltet, das spricht er in seinen natur- und kunstwissenschaftlichen Aufsätzen und in seinen »Sprüchen in Prosa« in der Form des Gedankens aus. Die tiefe Befriedigung, die von diesen Aufsätzen und Sprüchen ausgeht, hat darin ihren Grund, dass man den Einklang von Kunst und Erkenntnis in einer |255 Persönlichkeit verwirklicht sieht. Das Gefühl hat etwas Erhebendes, das bei jedem Goetheschen Gedanken auftritt: hier spricht jemand, der zugleich das Vollkommene, das er in Ideen ausdrückt, im Bilde schauen kann. Die Kraft eines solchen Gedankens wird verstärkt durch dieses Gefühl. Was aus den höchsten Bedürfnissen einer Persönlichkeit stammt, muss innerlich zusammengehören. Goethes Weisheitslehren antworten auf die Frage: was für eine Philosophie ist der echten Kunst gemäss? Ich versuche diese aus dem Geiste eines echten Künstlers geborene Philosophie im Zusammenhange nachzuzeichnen.
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Der Gedankeninhalt, der aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich der Aussenwelt gegenüberstellt, ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewusstsein gebracht, dass alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die Dinge der Aussenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er, dass dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Aussenwelt noch hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind nur so lange äussere Dinge, so lange man sie bloss beobachtet. Wenn man über sie nachdenkt, hören sie auf, ausser uns zu sein. Man verschmilzt mit ihrem inneren Wesen. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äusserer Wahrnehmung und subjektiver innerer |256 Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur.
Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache, dass verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von den Dingen machen. Auch nicht dadurch, dass die Organisationen der Menschen verschieden sind, so dass man nicht weiss, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge.
Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der tiefste Gehalt der Welt. »Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem grossen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.« (Goethe, Winckelmann Nat.-Litt., Bd. 27, S. 42). Nicht in dem, was die Aussenwelt liefert, liegt das Ziel des Weltalls und des Wesens des Daseins, sondern in dem, was im menschlichen Geiste lebt und aus ihm hervorgeht. Goethe betrachtet es daher als einen Irrtum, wenn der Naturforscher durch Instrumente und objektive Versuche in das Innere der Natur dringen will, denn »der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der grösste und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das grösste Unheil der neueren Physik, |257 dass man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloss in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will«. »Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, dass sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen, was sind die elementarischen Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muss, um sie sich einigermassen assimilieren zu können?« (Vgl. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 4, 2. Band, S. 351.)
Der Mensch muss die Dinge aus seinem Geiste sprechen lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die Welt beurteilen. Er muss anthropomorphisch denken. In die einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoss zweier Körper bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man sich darüber ausspricht. Das Urteil: der eine Körper stösst den andern, ist bereits anthropomorphisch. Denn man muss, wenn man über die blosse Beobachtung des Vorganges hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper der Aussenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der Dinge. Und man kann daher nicht sagen, dass der Mensch die objektive Wahrheit, das »An sich« der Dinge nicht erkenne, weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie machen kann. Von einer anderen als einer |259 subjektiven menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen, was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder Mensch, gemäss seinen individuellen Erlebnissen etwas in gewissem |259 Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern, der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, dass alle Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur darum, dass sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder seiner Individualität ansehen. »Diejenigen, welche widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, dass nicht jede Sprache jedem verständlich sei« (vgl. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 4, 2. Band, S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit |260 überliefern, sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er die äusseren Erscheinungen deutet.
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Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den Zusammenfluss des äusseren Objektiven und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Wer ausschliesslich die sinnliche Erfahrung anpreist, dem muss man mit Goethe erwidern, »dass die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist« (vgl. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 4, 2. Band, S. 503). »Alles Faktische ist schon Theorie«, d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffasst als ein Einleben in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das gemein, dass sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in der Aussenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen lässt. Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält, oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab, und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht. Goethe schreibt an Jacobi: »Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und Dir einen Pfahl ins Fleisch |261 gesetzt, mich mit der Physik gesegnet .... Ich halte mich an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) und überlasse Euch alles, was ihr Religion heisst und heissen müsst. Du hältst aufs Glauben an Gott, ich aufs Schauen.« Was Goethe schauen will, ist die in seiner Ideenwelt sich ausdrückende Wesenheit der Dinge. Auch der Mystiker will durch Versenkung in das eigene Innere die Wesenheit der Dinge erkennen; aber er lehnt gerade die in sich klare und durchsichtige Ideenwelt ab als untauglich zur Erlangung einer höheren Erkenntnis. Er glaubt nicht, sein Ideenvermögen, sondern andere Kräfte seines Innern entwickeln zu müssen, um die Urgründe der Dinge zu schauen. Gewöhnlich sind es unklare Empfindungen und Gefühle, in denen der Mystiker das Wesen der Dinge zu ergreifen glaubt. Aber Gefühle und Empfindungen gehören nur zum subjektiven Wesen des Menschen. In ihnen spricht sich nichts über die Dinge aus. Allein in den Ideen sprechen die Dinge selbst. Die Mystik ist eine oberflächliche Weltanschauung, trotzdem die Mystiker den Vernunftmenschen gegenüber sich viel auf ihre »Tiefe« zugute tun. Sie wissen nichts über die Natur der Gefühle, sonst würden sie sie nicht für Aussprüche des Wesens der Welt halten; und sie wissen nichts von der Natur der Ideen, sonst würden sie diese nicht für flach und rationalistisch halten. Sie ahnen nicht, was Menschen, die wirklich Ideen haben, in diesen erleben. Aber für viele sind Ideen eben blosse Worte. Sie können die unendliche Fülle ihres Inhaltes sich nicht aneignen. Kein Wunder, dass sie ihre eigenen ideenlosen Worthülsen als leer empfinden.
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Wer den wesentlichen Inhalt der objektiven Welt in dem eigenen Innern sucht, der kann auch das Wesentliche der sittlichen Weltordnung nur in die menschliche Natur selbst verlegen. Wer eine jenseitige Wirklichkeit hinter der menschlichen vorhanden glaubt, der muss in ihr auch den Quell |262 des Sittlichen suchen. Denn das Sittliche im höheren Sinne kann nur aus dem Wesen der Dinge kommen. Der Jenseitsgläubige nimmt deshalb sittliche Gebote an, denen sich der Mensch zu unterwerfen hat. Diese Gebote gelangen zu ihm entweder auf dem Wege einer Offenbarung, oder sie treten als solche in sein Bewusstsein ein, wie es beim kategorischen Imperativ Kants der Fall ist. Wie dieser aus dem jenseitigen »An sich« der Dinge in unser Bewusstsein kommt, darüber wird nichts gesagt. Er ist einfach da, und man hat sich ihm zu unterwerfen. Der Erfahrungsphilosoph, der von der reinen Sinnesbeobachtung alles Heil erwartet, sieht in dem Sittlichen nur das Wirken der menschlichen Triebe und Instinkte. Aus dem Studium dieser sollen die Normen folgen, die für das sittliche Handeln massgebend sind.
Goethe lässt das Sittliche aus der Ideenwelt des Menschen entstehen. Nicht objektive Normen und auch nicht die blosse Triebwelt lenken das sittliche Handeln, sondern die in sich klaren Ideen, durch die sich der Mensch selbst die Richtung gibt. Ihnen folgt er nicht aus Pflicht, wie er objektiv-sittlichen Normen folgen müsste. Und auch nicht aus Zwang, wie man seinen Trieben und Instinkten folgt. Sondern er dient ihnen aus Liebe. Er liebt sie, wie man ein Kind liebt. Er will ihre Verwirklichung und setzt sich für sie ein, weil sie ein Teil seines eigenen Wesens sind. Die Idee ist die Richtschnur und die Liebe ist die treibende Kraft in der Goetheschen Ethik. Ihm ist Pflicht, »wo man liebt, was man sich selbst befiehlt« (vgl. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 4, 2. Band, S. 460).
Ein Handeln im Sinne der Goetheschen Ethik ist ein freies Handeln. Denn der Mensch ist von nichts abhängig als von seinen eigenen Ideen. Und er ist niemandem verantwortlich als sich selbst. Ich habe bereits in meiner »Philosophie der Freiheit« den billigen Einwand entkräftet, dass die Folge einer sittlichen Weltordnung, in der jeder nur sich selbst gehorcht, die allgemeine Unordnung und Disharmonie des menschlichen Handelns sein müsse. Wer diesen Einwand macht, der übersieht, dass die Menschen gleichartige Wesen sind und dass sie |263 deshalb niemals sittliche Ideen produzieren werden, die durch ihre wesentliche Verschiedenheit einen unharmonischen Zusammenklang bewirken werden.
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Wenn der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, Schöpfungen hervorzubringen, die ganz in dem Sinne gestaltet sind, wie die Werke der Natur, und nur diesen Sinn in vollkommenerer Weise zur Anschauung bringen, als die Natur es vermag, so gäbe es keine Kunst im Sinne Goethes. Was der Künstler schafft, sind Naturobjekte auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit. Kunst ist Fortsetzung der Natur, »denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt« (Goethe, Winckelmann, Nat.Lit. Bd. 27, S.47). Nach dem Anblicke der griechischen Kunstwerke in Italien schreibt Goethe: »Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke |264 von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.« Der blossen sinnenfälligen Erfahrungswirklichkeit gegenüber sind die Kunstwerke ein schöner Schein; für den, der tiefer zu schauen vermag, sind sie »eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals offenbar würden« (vgl. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 4, 2. Band, S. 494).
Nicht der Stoff, den der Künstler aus der Natur aufnimmt, macht das Kunstwerk; sondern allein das, was der Künstler aus seinem Innern in das Werk hineinlegt. Das höchste Kunstwerk ist dasjenige, welches vergessen macht, dass ihm ein natürlicher Stoff zugrunde liegt, und das lediglich durch dasjenige unser Interesse erweckt, was der Künstler aus diesem Stoffe gemacht hat. Der Künstler gestaltet natürlich; aber er gestaltet nicht wie die Natur selbst. In diesen Sätzen scheinen mir die Hauptgedanken ausgesprochen zu sein, die Goethe in seinen Aphorismen über Kunst niedergelegt hat. |