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Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:

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Goethes

naturwissenschaftliche

Schriften

Goethes

naturwissenschaftliche

Schriften

IV. Ueber das Wesen und die Bedeutung von

Goethes Schriften über organische Bildung

EG, 49-84

Die hohe Bedeutung von Goethes morphologischen Arbeiten ist darin zu suchen, dass in denselben die theoretische Grundlage und die Methode des Studiums organischer Naturen festgestellt ist, welches eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges ist.

Will man dieses in der richtigen Weise würdigen, so muss man sich vor allem den grossen Unterschied gegenwärtig halten, welcher zwischen Erscheinungen der anorganischen und solchen der organischen Natur besteht. Eine Erscheinung der ersteren Art ist z. B. der Stoss zweier elastischer Kugeln aufeinander. Ist die eine Kugel ruhend und stösst die andere in einer gewissen Richtung und mit einer gewissen Geschwindigkeit auf dieselbe, so erhält jene ebenfalls eine gewisse Bewegungsrichtung und eine gewisse Geschwindigkeit. Handelt es sich nun darum, eine solche Erscheinung zu begreifen, so kann dies nur dadurch erreicht werden, dass wir das, was unmittelbar für die Sinne da ist, in Begriffe verwandeln. Es muss uns dieses in dem Maße gelingen, dass nichts Sinnenfällig-Wirkliches bleibt, welches wir nicht begrifflich durchdrungen hätten. Wir sehen die eine Kugel ankommen, an die andere stossen, letztere sich weiter bewegen. Wir haben diese Erscheinung begriffen, wenn wir aus Masse, Richtung und Geschwindigkeit der ersten und aus der Masse der anderen die Geschwindigkeit und Richtung von letzterer angeben können; wenn wir einsehen, dass unter den gegebenen Verhältnissen jene Erscheinung mit Notwendigkeit eintreten müsse. Das letztere heisst aber nichts anderes, als: es muss dasjenige, was sich unseren Sinnen darbietet, als eine notwendige Folge dessen erscheinen, was wir ideell vorauszusetzen haben. Ist das letztere der Fall, so können wir sagen, dass sich |50 Begriff und Erscheinung decken. Es ist nichts im Begriffe, was nicht auch in der Erscheinung wäre und nichts in der Erscheinung, was nicht auch im Begriffe wäre. Nun haben wir auf jene Verhältnisse, als deren notwendige Folge eine Erscheinung der unorganischen Natur auftritt, näher einzugehen. Hier tritt der wichtige Umstand ein, dass die sinnlich wahrnehmbaren Vorgänge der unorganischen Natur durch Verhältnisse bedingt werden, welche ebenfalls der Sinnenwelt angehören. In unserem Falle kommen Masse, Geschwindigkeit und Richtung, also durchaus Verhältnisse der Sinnenwelt in Betracht. Es tritt nichts weiteres als Bedingung der Erscheinung auf. Nur die unmittelbar sinnlich-wahrnehmbaren Umstände bedingen sich untereinander. Eine begriffliche Erfassung solcher Vorgänge ist also nichts anderes, als eine Ableitung von Sinnenfällig-Wirklichem aus Sinnenfällig-Wirklichem. Räumlich-zeitliche Verhältnisse, Masse, Gewicht oder sinnlich wahrnehmbare Kräfte wie Licht oder Wärme sind es, welche Erscheinungen hervorrufen, die wieder in dieselbe Reihe gehören. Ein Körper wird erwärmt und vergrössert dadurch sein Volumen; das erste wie das zweite gehört der Sinnenwelt an, sowohl die Ursache wie die Wirkung. Wir brauchen also, um solche Vorgänge zu begreifen, gar nicht aus der Sinnenwelt herauszugehen. Wir leiten nur innerhalb derselben eine Erscheinung aus der andern ab. Wenn wir also eine solche Erscheinung erklären, d. h. begrifflich durchdringen wollen, so haben wir in den Begriff keine anderen Elemente aufzunehmen als solche, welche auch anschaulich mit unseren Sinnen wahrzunehmen sind. Wir können alles anschauen, was wir begreifen wollen. Und darin besteht das Decken von Wahrnehmung (Erscheinung) und Begriff. Es bleibt uns nichts dunkel in den Vorgängen, weil wir die Verhältnisse kennen, aus denen sie folgen. Hiermit haben wir das Wesen der unorganischen Natur entwickelt und zugleich gezeigt, inwiefern wir dieselbe, ohne über sie hinauszugehen, aus sich selbst erklären können. An dieser Erklärbarkeit hat man nun niemals gezweifelt, seit man überhaupt angefangen hat, über die Natur dieser Dinge zu denken. Man hat zwar nicht immer den obigen Gedankengang durchgemacht, aus welchem die |51 Möglichkeit einer Deckung von Begriff und Wahrnehmung folgt; doch hat man nie Anstand genommen, die Erscheinungen auf die angedeutete Weise aus der Natur ihres eigenen Wesens zu erklären.

Anders aber verhielt es sich bis zu Goethe mit den Erscheinungen der organischen Welt. Beim Organismus erscheinen die für die Sinne wahrnehmbaren Verhältnisse, z. B. Form, Grösse, Farbe, Wärmeverhältnisse eines Organes, nicht bedingt durch Verhältnisse der gleichen Art. Man kann z. B. von der Pflanze nicht sagen, dass Grösse, Form, Lage etc. der Wurzel die sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnisse am Blatte oder an der Blüte bedingen. Ein Körper, bei dem dies der Fall wäre, wäre nicht ein Organismus, sondern eine Maschine. Man muss vielmehr zugestehen, dass alle sinnlichen Verhältnisse an einem lebenden Wesen nicht als Folge von andern sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnissen erscheinen, wie dies bei der unorganischen Natur der Fall ist. Alle sinnlichen Qualitäten erscheinen hier vielmehr als Folge eines solchen, welches nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Sie erscheinen als Folge einer über den sinnlichen Vorgängen schwebenden höheren Einheit. Nicht die Gestalt der Wurzel bedingt jene des Stammes und wiederum die Gestalt von diesem jene des Blattes usw., sondern alle diese Formen sind |52 bedingt durch ein über ihnen Stehendes, welches selbst nicht wieder sinnlich-anschaulicher Form ist; sie sind wohl für einander da, nicht aber durch einander. Sie bedingen sich nicht untereinander, sondern sind alle bedingt von einem anderen. Wir können hier das, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht wieder aus sinnlich wahrnehmbaren Verhältnissen ableiten, wir müssen in den Begriff der Vorgänge Elemente aufnehmen, welche nicht der Welt der Sinne angehören, wir müssen über die Sinnenwelt hinausgehen. Es genügt die Anschauung nicht mehr, wir müssen die Einheit begrifflich erfassen, wenn wir die Erscheinungen erklären wollen. Dadurch aber tritt eine Entfernung von Anschauung und Begriff ein; sie scheinen sich nicht mehr zu decken; der Begriff schwebt über der Anschauung. Es wird schwer, den Zusammenhang beider einzusehen. Während in der unorganischen Natur Begriff und Wirklichkeit eins waren, scheinen sie hier auseinander zu gehen und eigentlich zwei verschiedenen Welten anzugehören. Die Anschauung, welche sich den Sinnen unmittelbar darbietet, scheint ihre Begründung, ihre Wesenheit nicht in sich selbst zu tragen. Das Objekt scheint aus sich selbst nicht erklärbar, weil sein Begriff nicht von ihm selbst, sondern von etwas anderem entnommen ist. Weil das Objekt nicht von Gesetzen der Sinnenwelt beherrscht erscheint, doch aber für die Sinne da ist, ihnen erscheint, so ist es, als wenn man hier vor einem unlösbaren Widerspruche in der Natur stünde, als wenn eine Kluft bestünde zwischen anorganischen Erscheinungen, welche aus sich selbst zu begreifen sind, und organischen Wesen, bei denen ein Eingriff in die Gesetze der Natur geschieht, bei |53 denen allgemeingültige Gesetze auf einmal durchbrochen würden. Diese Kluft nahm man in der Tat bis auf Goethe allgemein in der Wissenschaft an; erst ihm gelang es, das lösende Wort des Rätsels zu sprechen. Erklärbar aus sich selbst sollte, so dachte man vor ihm, nur die unorganische Natur sein; bei der organischen höre das menschliche Erkenntnisvermögen auf. Man wird die Grösse der Tat, welche Goethe vollbracht hat, am besten ermessen, wenn man bedenkt, dass der grosse Reformator der neueren Philosophie Kant jenen alten Irrtum nicht nur vollkommen teilte, sondern sogar eine wissenschaftliche Begründung dafür zu finden suchte, dass es dem menschlichen Geiste nie gelingen werde, die organischen Bildungen zu erklären. Wohl sah er die Möglichkeit eines Verstandes ein – eines intellectus archetypus, eines intuitiven Verstandes –, dem es gegeben wäre, den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit bei den organischen Wesen geradeso wie bei den Anorganen zu durchschauen; allein dem Menschen selbst sprach er die Möglichkeit eines solchen Verstandes ab. Der menschliche Verstand soll nämlich nach Kant die Eigenschaft haben, dass er sich die Einheit, den Begriff einer Sache nur als hervorgehend aus der Zusammenwirkung der Teile – als durch Abstraktion gewonnenes analytisches Allgemeines – denken kann, nicht aber so, dass jeder einzelne Teil als der Ausfluss einer bestimmten konkreten (synthetischen) Einheit, eines Begriffes in intuitiver Form erschiene. Daher sei es diesem Verstande auch unmöglich, die organische Natur zu erklären, denn diese müsste ja aus dem Ganzen in die Teile wirkend gedacht werden. Kant sagt darüber: »Unser Verstand hat also das Eigene für die Urteilskraft, dass ihm Erkenntnis durch denselben, durch das Allgemeine, das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem nicht abgeleitet werden kann«. Wir müssten danach also bei den organischen Bildungen darauf verzichten, den notwendigen Zusammenhang der Idee des Ganzen, welche nur gedacht werden kann mit dem, was unseren Sinnen im Raume und in Zeit erscheint, zu erkennen. Wir müssten uns |54 nach Kant darauf beschränken, einzusehen, dass ein solcher Zusammenhang existiert; die logische Forderung aber zu erkennen, wie der allgemeine Gedanke, die Idee aus sich heraustritt und als sinnenfällige Wirklichkeit sich offenbart, diese könne bei den Organismen nicht erfüllt werden. Wir müssten vielmehr annehmen, dass sich Begriff und Wirklichkeit hier unvermittelt gegenüberstünden und durch einen ausserhalb der beiden liegenden Einfluss etwa auf dieselbe Weise zustande gebracht worden seien, wie der Mensch nach einer von ihm aufgeworfenen Idee irgendein zusammengesetztes Ding, z. B. eine Maschine aufbaut. Damit war die Möglichkeit einer Erklärung der Organismenwelt geleugnet, ihre Unmöglichkeit sogar scheinbar bewiesen.

So standen die Dinge, als Goethe sich daran machte, die organischen Wissenschaften zu pflegen. Aber er ging an das Studium derselben, nachdem er durch die wiederholte Lektüre des Philosophen Spinoza in der angemessensten Weise darauf vorbereitet war.

Zum ersten Male machte sich Goethe an Spinoza im Frühjahre 1774. Goethe sagt von dieser seiner ersten Bekanntschaft mit dem Philosophen in Dichtung und Wahrheit (Buch IV, 3. Teil): »Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die Ethik dieses Mannes«. Im Sommer desselben Jahres traf Goethe mit Fritz Jacobi zusammen. Letzterer, der sich ausführlicher mit Spinoza auseinandersetzte – wovon seine Briefe über die Lehre des Spinoza 1785 zeugen –, war ganz dazu geeignet, Goethe tiefer in das Wesen des Philosophen einzuführen. Spinoza wurde damals auch viel besprochen, denn bei Goethe »war noch alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung, gärend und siedend«. Einige Zeit später fand er in der Bibliothek seines Vaters ein Buch, dessen Autor gegen Spinoza heftig kämpfte, ja ihn bis zur vollkommenen Fratze entstellte. Dies wurde der Anlass, dass sich Goethe mit dem tiefen Denker noch einmal ernstlich beschäftigte. Er fand in seinen Schriften |55 Aufschlüsse über die tiefsten wissenschaftlichen Fragen, die er damals aufzuwerfen fähig war. Im Jahre 1784 liest der Dichter Spinoza mit Frau von Stein. Er schreibt am 4. November 1784 an die Freundin: »Ich bringe den Spinoza lateinisch mit, wo alles viel deutlicher ist.« Die Wirkung dieses Philosophen auf Goethe war nun eine ungeheure. Goethe selbst war sich darüber stets klar. Im Jahre 1816 schreibt er an Zelter: »Ausser Shakespeare und Spinoza wüsst᾽ ich nicht, dass irgend ein Abgeschiedener eine solche Wirkung auf mich getan wie Linné«. Er betrachtet also Shakespeare und Spinoza als die beiden Geister, welche auf ihn den grössten Einfluss ausgeübt haben. Wie nun sich dieser Einfluss in bezug auf die Studien organischer Bildung äusserte, das wird uns am deutlichsten, wenn wir uns ein Wort über Lavater aus der italienischen Reise vorhalten: Lavater vertrat eben auch jene damals allgemein gangbare Ansicht, dass ein Lebendiges nur durch einen nicht in der Natur der Wesen selbst gelegenen Einfluss, durch eine Störung der allgemeinen Naturgesetze entstehen könne. Darüber schrieb denn Goethe die Worte: »Neulich fand ich in einer leidig apostolisch kapuzinermässigen Deklamation des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles was Leben hat, lebt durch etwas ausser sich ‒ oder so ungefähr klang᾽s. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht beim Aermel«. Dies ist nun ganz im Geiste Spinozas gesprochen. Spinoza unterscheidet drei Arten von Erkenntnis. Die erste Art ist jene, bei der wir uns bei gewissen gehörten oder gelesenen Worten der Dinge erinnern und uns von diesen Dingen gewisse Vorstellungen bilden, ähnlich denen, durch welche wir die Dinge bildlich vorstellen. Die zweite Art der Erkenntnis ist jene, bei welcher wir uns aus zureichenden Vorstellungen von den Eigenschaften der Dinge Gemeinbegriffe bilden. Die dritte Art der Erkenntnis ist nun aber diejenige, bei welcher wir von der zureichenden Vorstellung des wirklichen Wesens einiger Attribute Gottes zur zureichenden Erkenntnis des Wesens der Dinge fortschreiten. Diese Art der Erkenntnis nennt nun Spinoza Scientia intuitiva, das anschauende |56 Wissen. Diese letztere, die höchste Art der Erkenntnis, war es nun, die Goethe anstrebte. Man muss sich dabei vor allem klar sein, was Spinoza damit sagen will: Die Dinge sollen so erkannt werden, dass wir in ihrem Wesen einige Attribute Gottes erkennen. Der Gott Spinozas ist der Ideengehalt der Welt, das treibende, alles stützende und alles tragende Prinzip. Man kann sich nun dieses entweder so vorstellen, dass man es als selbständiges, für sich abgesondert von den endlichen Wesen existierendes Wesen voraussetzt, welches diese endlichen Dinge neben sich hat, sie beherrscht und in Wechselwirkung versetzt. Oder aber, man stellt sich dieses Wesen als aufgegangen in den endlichen Dingen vor, so dass es nicht mehr über und neben ihnen, sondern nur mehr in ihnen existiert. Diese Ansicht leugnet jenes Urprinzip keineswegs, sie erkennt es vollkommen an, nur betrachtet sie es als ausgegossen in die Welt. Die erste Ansicht betrachtet die endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber dieses Unendliche bleibt in seinem Wesen erhalten, es vergibt sich nichts. Es geht nicht aus sich heraus, es bleibt, was es vor seiner Offenbarung war. Die zweite Ansicht sieht die endliche Welt ebenso als eine Offenbarung des Unendlichen an, nur nimmt sie an, dass dieses Unendliche in seinem Offenbarwerden ganz aus sich herausgegangen ist, sich selbst, sein eigenes Wesen und Leben in seine Schöpfung gelegt hat, so dass es nur mehr in dieser existiert. Da nun Erkennen offenbar ein Gewahrwerden des Wesens der Dinge ist, dieses Wesen doch aber nur in dem Anteile, den ein endliches Wesen von dem Urprinzipe aller Dinge hat, bestehen kann, so heisst Erkennen ein Gewahrwerden jenes Unendlichen in den Dingen. Nun nahm man, wie wir oben ausgeführt haben, vor Goethe bei der unorganischen Natur wohl an, dass man sie aus sich selbst erklären könne, dass sie ihre Begründung und ihr Wesen in sich trage, nicht so aber bei der organischen. Hier konnte man jenes Wesen, welches sich in dem Objekte offenbart, nicht in dem letzteren selbst erkennen. Man nahm es daher ausserhalb desselben an. Kurz: man erklärte die organische |57 Natur nach der ersten Ansicht, die anorganische nach der zweiten. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Erkenntnis hatte, wie wir gesehen haben, Spinoza bewiesen. Er war zu sehr Philosoph, als dass er diese theoretische Forderung auch auf die speziellen Zweige der Organik hätte ausdehnen können.  Dies blieb nun Goethe vorbehalten. Nicht nur der obige Ausspruch, sondern noch zahlreiche andere beweisen uns, dass er sich entschieden zur spinozistischen Auffassung bekannte. In Dichtung und Wahrheit: »Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, dass die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte.« Und in bezug auf das 1811 erschienene Buch Jacobis: »Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung« bemerkt Goethe: »Wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott. Musste bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so dass diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte, musste nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen?« Goethe war sich des grossen Schrittes, den er in der Wissenschaft vollführt, vollständig bewusst; er erkannte, dass er, indem er die Schranken zwischen anorganischer und organischer Natur brach und Spinozas Denkweise konsequent durchführte, eine bedeutsame Wendung der Wissenschaft herbeiführe. Wir finden diese Erkenntnis in dem Aufsatz: Anschauende Urteilskraft ausgesprochen. Nachdem er die oben von uns mitgeteilte Kantsche Begründung der Unfähigkeit des menschlichen Verstandes einen Organismus zu erklären, in der Kritik der Urteilskraft gefunden, spricht er sich dagegen so aus: »Zwar scheint der Verfasser (Kant) hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine |58 obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen; so dürfte es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, dass wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewusst und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemässe Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberg selbst nennt, mutig zu bestehen.«

 

Das Wesentliche eines Vorganges der unorganischen Natur oder anders gesagt: eines der blossen Sinnenwelt angehörigen Vorganges besteht darin, dass er durch einen anderen ebenfalls nur der Sinnenwelt angehörigen Prozess bewirkt und determiniert wird. Nehmen wir nun an, der verursachende Prozess bestehe aus den Elementen m, c und r, der bewirkte aus ḿ, ć und ŕ; so ist immer bei bestimmten m, c, und r, ḿ, ć und ŕ eben durch jene bestimmt. Will ich nun den Vorgang begreifen, so muss ich den Gesamtvorgang, der sich aus der Ursache und Wirkung zusammensetzt, in einem gemeinsamen Begriffe darstellen. Dieser Begriff ist nun aber nicht derart, dass er im Vorgange selbst liegen und dass er den Vorgang bestimmen könnte. Er fasst nur beide Vorgänge in einen gemeinsamen Ausdruck zusammen. Er bewirkt und bestimmt nicht. Nur die Objekte der Sinneswelt bestimmen sich. Die Elemente m, c und r sind auch für die äusseren Sinne wahrnehmbare Elemente. Der Begriff erscheint nur da, um dem Geiste als Mittel der Zusammenfassung zu dienen, er drückt etwas aus, was nicht ideell, nicht begrifflich, was sinnenfällig wirklich ist. Und jenes etwas, was er ausdrückt, dies ist sinnenfälliges Objekt. Auf der Möglichkeit, die Aussenwelt durch die Sinne aufzufassen und ihre Wechselwirkung durch Begriffe auszudrücken, beruht die Erkenntnis der anorganischen Natur. Die Möglichkeit, auf diese Art Dinge zu erkennen, sah Kant für die einzige dem Menschen zukommende an. Dieses Denken nannte er diskursives; was wir erkennen wollen, ist äussere Anschauung; der Begriff, die zusammenfassende |59 Einheit, blosses Mittel. Wollten wir aber die organische Natur erkennen, so müssten wir das ideelle Moment, das Begriffliche nicht als ein solches fassen, das ein anderes ausdrückt, bedeutet, von diesem sich seinen Inhalt borgt, sondern wir müssten das Ideelle als solches erkennen; es müsste einen eigenen aus sich selbst, nicht aus der räumlich-zeitlichen Sinnenwelt stammenden Inhalt haben. Jene Einheit, welche dort unser Geist bloss abstrahiert, müsste sich auf sich selbst bauen, sie müsste sich aus sich heraus gestalten, sie müsste ihrem eigenen Wesen gemäss, nicht nach den Einflüssen anderer Objekte gebildet sein. Die Erfassung einer solchen aus sich selbst sich gestaltenden, sich aus eigener Kraft offenbarenden Entität sollte dem Menschen versagt sein. Was ist nun zu einer solchen Erfassung nötig? Eine Urteilskraft, welche einem Gedanken auch einen anderen als bloss einen durch die äusseren Sinne aufgenommenen Stoff verleihen kann, eine solche, welche nicht bloss Sinnenfälliges erfassen kann, sondern auch rein Ideelles für sich, abgesondert von der sinnlichen Welt. Man kann nun einen Begriff, der nicht durch Abstraktion aus der Sinnenwelt genommen ist, sondern der einen aus ihm und nur aus ihm fliessenden Gehalt hat, einen intuitiven Begriff und die Erkenntnis desselben eine intuitive nennen. Was daraus folgt, ist klar: Ein Organismus kann nur im intuitiven Begriffe erfasst werden. Dass es dem Menschen gegönnt sei, so zu erkennen, das zeigt Goethe durch die Tat.  

In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der Teile einer Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der Glieder derselben durcheinander. In der organischen ist dies nicht der Fall. Hier bestimmt nicht ein Glied eines Wesens das andere, sondern das Ganze (die Idee) bedingt jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen Wesen gemäss. Dieses sich aus sich selbst Bestimmende kann man mit Goethe eine Entelechie nennen. Entelechie ist also die sich aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft. Was in die Erscheinung tritt, hat auch sinnenfälliges Dasein, aber dies ist durch jenes entelechische Prinzip bestimmt. Daraus entspringt auch der scheinbare Widerspruch. Der Organismus bestimmt sich aus sich |60 selbst, macht seine Eigenschaften einem vorausgesetzten Prinzipe gemäss, und doch ist er sinnlich-wirklich. Er ist also auf eine ganz andere Weise zu seiner sinnlichen Wirklichkeit gekommen, als die andern Objekte der Sinnenwelt; er scheint daher auf nicht natürlichem Wege entstanden zu sein. Nun ist es aber auch ganz erklärlich, dass der Organismus in seiner Aeusserlichkeit ebenso den Einflüssen der Sinnenwelt ausgesetzt ist, wie jeder andere Körper. Der vom Dache fallende Stein kann ebenso ein lebendes Wesen, wie einen unorganischen Körper treffen. Durch Aufnahme von Nahrung usw. ist der Organismus mit der Aussenwelt im Zusammenhange; alle physischen Verhältnisse der Aussenwelt wirken auf ihn ein. Natürlich kann dies auch nur insoferne stattfinden, als der Organismus Objekt der Sinnenwelt, räumlich-zeitliches Objekt ist. Dieses Objekt der Aussenwelt nun, das zum Dasein gekommene entelechische Prinzip, ist die äussere Erscheinung des Organismus. Da er hier aber nicht nur seinen eigenen Bildungsgesetzen, sondern auch den Bedingungen der Aussenwelt unterworfen ist; nicht nur so ist, wie er dem Wesen des sich aus sich selbst bestimmenden entelechischen Prinzips gemäss sein sollte, sondern so, wie er von anderem abhängig, beeinflusst ist, so erscheint er gleichsam sich selbst nie ganz angemessen, nie bloss seiner eigenen Wesenheit gehorchend. Da tritt nun die menschliche Vernunft ein und bildet sich in der Idee einen Organismus, der nicht den Einflüssen der Aussenwelt gemäss, sondern nur jenem Prinzipe entsprechend ist. Jeder zufällige Einfluss, der mit dem Organischen als solchem nichts zu tun hat, fällt dabei ganz weg. Diese rein dem Organischen im Organismus entsprechende Idee ist nun die Idee des Urorganismus, der Typus Goethes. Hieraus sieht man auch die hohe Berechtigung dieser Typusidee ein. Sie ist nicht ein blosser Verstandesbegriff, sie ist dasjenige, was in jedem Organismus das wahrhaft Organische ist, ohne welches derselbe nicht Organismus wäre. Sie ist sogar reeller als jeder einzelne wirkliche Organismus, weil sie sich in jedem Organismus offenbart. Sie drückt auch das Wesen eines Organismus voller, reiner aus als jeder einzelne, besondere Organismus. Sie ist auf wesentlich andere Weise gewonnen als der Begriff eines |61 unorganischen Vorganges. Jener ist abgezogen, abstrahiert aus der Wirklichkeit, er ist nicht in letzterer wirksam; die Idee des Organismus aber ist als Entelechie im Organismus tätig, wirksam; sie ist in der von unserer Vernunft erfassten Form nur die Wesenheit der Entelechie selbst. Sie fasst die Erfahrung nicht zusammen; sie bewirkt das zu Erfahrende. Goethe drückt dies mit den Worten aus: Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen, Vernunft erfordert. (Sprüche in Prosa) Damit ist jene Art der Realität, die dem Goetheschen Urorganismus (Urpflanze oder Urtier) zukommt, erklärt. Diese Goethesche Methode ist offenbar die einzig mögliche, um in das Wesen der Organismenwelt einzudringen.

Beim Unorganischen ist es als wesentlich zu betrachten, dass die Erscheinung in ihrer Mannigfaltigkeit mit der sie erklärenden Gesetzlichkeit nicht identisch ist, sondern auf letztere, als auf ein ihr Aeusseres, bloss hinweist. Die Anschauung – das materielle Element der Erkenntnis – die uns durch die äusseren Sinne gegeben ist, und der Begriff – das formelle – durch den wir die Anschauung als notwendig erkennen, stehen einander gegenüber als zwei einander zwar objektiv fordernde Elemente, aber so dass der Begriff nicht in den einzelnen Gliedern einer Erscheinungsreihe selbst liegt, sondern in einem Verhältnisse derselben zueinander. Dieses Verhältnis, welches die Mannigfaltigkeit in ein einheitliches Ganzes zusammenfasst, ist in den einzelnen Teilen des Gegebenen begründet, aber als Ganzes (als Einheit) kommt es nicht zur reellen, konkreten Erscheinung. Zur äusseren Existenz – im Objekte – kommen nur die Glieder dieses Verhältnisses. Die Einheit, der Begriff kommt als solcher erst in unserem Verstande zur Erscheinung. Es kommt ihm die Aufgabe zu, das Mannigfaltige der Erscheinung zusammenzufassen, er verhält sich zu dem letzteren als Summe. Wir haben es hier mit einer Zweiheit zu tun, mit der mannigfaltigen Sache, die wir anschauen, und mit der Einheit, die wir denken. In der organischen Natur stehen die Teile des Mannigfaltigen eines Wesens nicht in einem solchen äusserlichen Verhältnisse zueinander. Die Einheit kommt mit der Mannigfaltigkeit zugleich, als mit ihr identisch in dem |62 Angeschauten zur Realität. Das Verhältnis der einzelnen Glieder eines Erscheinungsganzen (Organismus) ist ein reelles geworden. Es kommt nicht mehr bloss in unserem Verstande zur konkreten Erscheinung, sondern im Objekte selbst, in welch’ letzterem es die Mannigfaltigkeit aus sich selbst hervorbringt. Der Begriff hat nicht bloss die Rolle einer Summe, eines Zusammenfassenden, welches sein Objekt ausser sich hat; er ist mit demselben vollkommen eins geworden. Was wir anschauen, ist nicht mehr verschieden von dem, wodurch wir das Angeschaute denken; wir schauen den Begriff als Idee selbst an. Daher nennt Goethe das Vermögen, wodurch wir die organische Natur begreifen, anschauende Urteilskraft. Das Erklärende – das Formelle der Erkenntnis, der Begriff – und das Erklärte – das Materielle, die Anschauung – sind identisch. Die Idee, durch welche wir das Organische erfassen, ist somit wesentlich verschieden von dem Begriffe, durch den wir das Unorganische erklären; sie fasst ein gegebenes Mannigfaltiges nicht bloss – wie eine Summe – zusammen, sondern setzt ihren eigenen Inhalt aus sich heraus. Sie ist Resultat des Gegebenen (der Erfahrung), konkrete Erscheinung. Hierin liegt der Grund, warum wir in der unorganischen Naturwissenschaft von Gesetzen (Naturgesetzen) sprechen und die Tatsachen durch sie erklären, in der organischen Natur dies dagegen durch Typen tun. Das Gesetz ist mit der Mannigfaltigkeit der Anschauung, die es beherrscht, nicht ein und dasselbe, es steht über ihr; im Typus aber ist Ideelles und Reelles zur Einheit geworden, das Mannigfaltige kann nur als ausgehend von einem Punkte des mit ihm identischen Ganzen erklärt werden.

In der Erkenntnis dieses Verhältnisses zwischen der Wissenschaft des Unorganischen und jener des Organischen liegt das Bedeutsame Goethescher Forschung. Man irrt daher, wenn man heute vielfach die letztere für eine Vorausnahme jenes Monismus erklärt, welcher eine das Organische wie das Unorganische umfassende einheitliche Naturanschauung dadurch begründen will, dass er das erstere auf dieselben Gesetze – die mechanisch-physikalischen Kategorien und Naturgesetze – zurückzuführen bestrebt ist, von denen das letztere bedingt wird. Wie Goethe sich eine monistische Anschauung denkt, haben wir |63 gesehen. Die Art, wie er das Organische erklärt, ist wesentlich verschieden von der, wie er beim Unorganischen vorgeht. Er will die mechanische Erklärungsweise streng abgelehnt wissen bei dem, was höherer Art ist (siehe Sprüche in Prosa  ). Er tadelt an Kieser und Link, dass sie die organischen Erscheinungen auf unorganische Wirkungsweisen zurückführen wollen. (Siehe Kürschners Nat.-Lit., Naturw. Schriften, 4. Bd., 2. Abt., S. 413).

Die Veranlassung zu der angedeuteten irrtümlichen Ansicht über Goethe hat das Verhältnis gegeben, in das er sich zu Kant in bezug auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der organischen Natur gesetzt hat. Wenn aber Kant behauptet, dass unser Verstand die organische Natur nicht zu erklären vermag, so meint er damit gewiss nicht, dass sie auf mechanischer Gesetzlichkeit beruhe, und er sie nur als eine Folge mechanisch-physikalischer Kategorien nicht fassen kann. Der Grund von diesem Unvermögen liegt nach Kant vielmehr gerade darin, dass unser Verstand bloss Mechanisch-Physikalisches erklären könne und das Wesen des Organismus nicht dieser Natur ist. Wäre es dieses, so könnte der Verstand vermöge der ihm zu Gebote stehenden Kategorien es sehr wohl begreifen. Goethe denkt nun nicht etwa daran, die organische Welt trotz Kant als Mechanismus zu erklären; sondern er behauptet, dass uns das Vermögen keineswegs abgehe, die höhere Art der Naturwirksamkeit, welche das Wesen des Organischen begründet, zu erkennen.

Indem wir das vorhin Gesagte erwägen, tritt uns sogleich ein wesentlicher Unterschied zwischen anorganischer und organischer Natur entgegen. Weil dort jeder beliebige Prozess einen anderen bewirken kann, dieser wieder einen anderen usf., so erscheint die Reihe der Vorgänge nirgends als eine geschlossene. Alles ist in steter Wechselwirkung, ohne dass sich eine gewisse Gruppe von Objekten der Einwirkung anderer gegenüber abzuschliessen vermöchte. Die anorganischen Wirkungsreihen haben nirgends Anfang und Ende; das folgende steht mit dem vorhergehenden nur in einem zufälligen Zusammenhange. Fällt ein Stein zur Erde, so hängt es von der zufälligen Form des Objektes, auf welches er fällt, ab, welche Wirkung er ausübt. Anders nun ist die Sache in einem |64 Organismus. Hier ist die Einheit das erste. Die auf sich gebaute Entelechie enthält eine Anzahl sinnlicher Gestaltungsformen, von denen eine die erste, eine andere die letzte sein muss; bei denen nur immer in ganz bestimmter Weise die eine auf die andere folgen kann. Die ideelle Einheit setzt aus sich heraus eine Reihe sinnenfälliger Organe in zeitlicher Aufeinanderfolge und in räumlichem Nebeneinandersein und schliesst sich in ganz bestimmter Weise von der übrigen Natur ab. Sie setzt ihre Zustände aus sich heraus. Daher sind sie auch nur in der Weise zu begreifen, dass man das aus einer ideellen Einheit hervorgehende Gestalten aufeinanderfolgender Zustände verfolgt, d. h. ein organisches Wesen ist nur in seinem Werden, in seiner Entwicklung zu verstehen. Der unorganische Körper ist abgeschlossen, starr, nur von aussen zu erregen, innen unbeweglich. Der Organismus ist die Unruhe in sich selbst, vom Innern heraus stets sich umbildend, verwandelnd, Metamorphosen bildend. Darauf beziehen sich folgende Aussprüche Goethes: »Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? – Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne« (Sprüche in Prosa  in Naturwissenschaftl. Schriften in Kürschners Nat.-Lit. 4, 2. Bd., S. 373) und »die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist daher tot.«

 

Der Organismus tritt uns in der Natur in zwei Hauptformen entgegen: als Pflanze und als Tier; in beiden auf verschiedene Weise. Die Pflanze unterscheidet sich vom Tiere durch den Mangel eines realen Innenlebens. Beim Tiere tritt das letztere als Empfindung, willkürliche Bewegung usw. auf. Die Pflanze hat ein solches seelisches Prinzip nicht. Sie geht noch ganz in ihrer Äußerlichkeit, in der Gestalt auf. Indem jenes entelechische Prinzip gleichsam von einem Punkte aus das Leben bestimmt, tritt es uns in der Pflanze in der Weise entgegen, daß alle einzelnen Organe nach demselben Gestaltungsprinzipe gebildet sind. Die Entelechie erscheint hier als Gestaltungskraft der einzelnen Organe. Letztere sind alle nach einem und demselben Bildungstypus gebaut, sie |65 erscheinen als Modifikationen eines Grundorganes, als Wiederholung desselben auf verschiedenen Entwicklungsstufen. Das, was die Pflanze zur Pflanze macht, eine gewisse formbildende Kraft, ist in jedem Organe auf gleiche Weise wirksam. Jedes Organ erscheint so als identisch mit allen anderen und auch mit der ganzen Pflanze. Goethe drückt dies so aus: «Es ist mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf.» 74 Die Pflanze erscheint so gleichsam aus lauter einzelnen Pflanzen zusammengesetzt, als ein komplizierteres Individuum, das wieder aus einfacheren besteht. Die Bildung der Pflanze schreitet also von Stufe zu Stufe vor und bildet Organe; jedes Organ ist mit jedem andern identisch, d. h. dem Bildungsprinzipe nach gleich, der Erscheinung nach verschieden. Die innere Einheit dehnt sich bei der Pflanze gleichsam in die Breite, sie lebt sich in der Mannigfaltigkeit aus, verliert sich in derselben, so daß sie nicht, wie wir dies später am Tiere sehen werden, ein mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattetes konkretes Dasein gewinnt, welches als Lebenszentrum der Mannigfaltigkeit der Organe gegenübertritt und sie als Vermittler mit der Außenwelt gebraucht.

Es entsteht nun die Frage: Wodurch wird jene Verschiedenheit in der Erscheinung der dem inneren Prinzipe nach identischen Pflanzenorgane herbeigeführt? Wie ist es den Bildungsgesetzen, die alle nach einem Gestaltungsprinzipe wirken, möglich, das eine Mal ein Laubblatt, das andere Mal ein Kelchblatt hervorzubringen? Die Verschiedenheit kann bei dem ganz in der Äußerlichkeit liegenden Leben der Pflanze auch nur auf äußerlichen, d. h. räumlichen Momenten beruhen. Als solche sieht Goethe nun eine abwechselnde Ausdehnung und Zusammenziehung an. Indem das entelechische, aus einem Punkte wirkende Prinzip des Pflanzenlebens ins Dasein tritt, manifestiert es sich als räumlich, die Bildungskräfte wirken im Raume. Sie erzeugen Organe von bestimmter räumlicher Form. |66 Nun konzentrieren sich diese Kräfte entweder, sie streben gleichsam in einen einzigen Punkt zusammen; und dies ist das Stadium der Zusammenziehung, oder sie breiten sich aus, entfalten sich, sie trachten sich gewissermaßen voneinander zu entfernen: dies ist das Stadium der Ausdehnung. Im ganzen Leben der Pflanze wechseln drei Ausdehnungen mit drei Zusammenziehungen. Alles, was in die dem Wesen nach identischen Bildungskräfte der Pflanze Verschiedenes hineinkommt, rührt von dieser wechselnden Ausdehnung und Zusammenziehung her.

Abb07.tif

Zuerst (vgl. Abb. 7 links) ruht die ganze Pflanze der Möglichkeit nach auf einen Punkt zusammengezogen im Samen (a). Daraus tritt sie nun hervor und entfaltet sich, dehnt sich aus in der Blattbildung (c). Die Bildungskräfte stossen sich immer mehr ab, daher erscheinen die unteren Blätter noch roh, kompakt (cc'); je weiter aufwärts, desto gerippter, gezackter werden sie. Was sich vorher noch aneinander drängte, tritt jetzt auseinander (Blatt d und e). Was früher in aufeinanderfolgenden Zwischenräumen (zz') stand, das tritt in der Kelchbildung (f) wieder an einem Punkte des Stengels auf (w). Die letztere bildet die zweite Zusammenziehung.

 

In der Blumenkrone tritt neuerdings eine Entfaltung, Ausbreitung ein. Die Blumenblätter (g) sind im Vergleiche zu den Kelchblättern feiner, zarter; was nur von einer geringeren Intensität auf einem Punkte, also von einer grösseren Extension der Bildungskräfte herrühren kann. In den Geschlechtsorganen [Staubgefässen (h) und Stempel (i)] tritt die nächste Zusammenziehung ein, worauf in der Fruchtbildung (k) eine neue Ausdehnung stattfindet. In dem aus der Frucht hervorgehenden Samen (a) erscheint wieder das ganze Wesen der Pflanze auf einen Punkt zusammengedrängt. |67

 

Die ganze Pflanze stellt nur eine Entfaltung, eine Realisation des in der Knospe oder im Samen der Möglichkeit nach Ruhendem dar. Knospe und Same brauchen nur die geeigneten äusseren Einflüsse, um zu vollkommenen Pflanzenbildungen zu werden. Der Unterschied zwischen Knospe und Same ist nur dieser, dass der letztere unmittelbar die Erde zum Boden seiner Entfaltung hat, während die erstere im allgemeinen eine Pflanzenbildung auf einer Pflanze selbst darstellt. Der Same stellt ein Pflanzenindividuum höherer Art dar, oder, wenn man will, einen ganzen Kreis von Pflanzengebilden  . Die Pflanze beginnt gleichsam mit jeder Knospenbildung ein neues Stadium ihres Lebens, sie regeneriert sich, sie konzentriert ihre Kräfte, um sie von neuem wieder zu entfalten. Die Knospenbildung ist also zugleich eine Unterbrechung der Vegetation. Das Pflanzenleben kann sich zur Knospe zusammenziehen, wenn die Bedingungen eigentlichen realen Lebens mangeln, um sich bei Eintritt derselben neuerdings zu entfalten. Die Unterbrechung der Vegetation im Winter beruht darauf. Goethe sagt darüber: »Es ist gar interessant, zu bemerken, wie eine lebhaft fortgesetzte und durch starke Kälte nicht unterbrochene Vegetation wirkt: hier gibt᾽s keine Knospen, und man lernt erst begreifen, was eine Knospe ist.« Was also bei uns in der Knospe verborgen ruht, ist dort offen am Tage; es ist also wahres Pflanzenleben, was in der letzteren liegt; nur fehlen die Bedingungen seiner Entfaltung.

Man hat sich nun ganz besonders gegen den Begriff abwechselnder Ausdehnung und Zusammenziehung bei Goethe gewendet. Alle Angriffe darauf aber gehen von einem Missverständnisse aus. Man glaubt, dass diese Begriffe nur dann Gültigkeit haben könnten, wenn sich eine physikalische Ursache |68 für sie finden liesse, wenn man eine Wirkungsweise der in der Pflanze wirkenden Gesetze nachweisen könnte, aus welcher ein solches Ausdehnen und Zusammenziehen folge. Dies zeigt nur, dass man die Sache auf die Spitze statt auf die Basis stellt. Es ist nichts vorauszusetzen, was die Ausdehnung oder Zusammenziehung bewirkt; im Gegenteile: alles andere ist Folge der ersteren, sie bewirken eine fortschreitende Metamorphose von Stufe zu Stufe. Man kann sich eben den Begriff nicht in seiner selbsteigenen, in seiner intuitiven Form vorstellen; man verlangt, dass er das Resultat eines äusseren Vorganges darstellen soll. Man kann sich Ausdehnung und Zusammenziehung nur als bewirkt, nicht als bewirkend denken. Goethe sieht Ausdehnung und Zusammenziehung nicht so an, als ob sie aus der Natur der an der Pflanze vor sich gehenden unorganischen Prozesse folgen würden, sondern er betrachtet sie als die Art, wie sich jenes innere entelechische Prinzip gestaltet. Er konnte sie also nicht als Summe, als Zusammenfassung sinnenfälliger Vorgänge ansehen und aus solchen deduzieren, sondern er musste sie als eine Folge des innern einheitlichen Prinzips selbst ableiten.

Das Pflanzenleben wird unterhalten durch den Stoffwechsel. In bezug auf diesen tritt eine wesentliche Verschiedenheit zwischen jenen Organen ein, welche näher der Wurzel sind, d. h. dem Organe, das die Nahrungsaufnahme aus der Erde besorgt, und jenen, welche den bereits durch andere Organe hindurchgegangenen Nahrungsstoff bekommen. Erstere erscheinen unmittelbar von ihrer äusseren anorganischen Umgebung abhängig, diese dagegen von den ihnen vorhergehenden organischen Teilen. Jedes folgende Organ erhält daher eine gleichsam für sich, durch das vorhergehende zubereitete Nahrung. Die Natur schreitet vom Samen zur Frucht in einer Stufenfolge fort, so dass das Nachfolgende als Resultat des Vorangehenden erscheint. Und dieses Fortschreiten nennt Goethe ein Fortschreiten auf einer geistigen Leiter. Nichts weiter als das von uns Angedeutete liegt in seinen Worten, »dass ein oberer Knoten, indem er aus dem vorhergehenden entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner und filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen |69 Einwirkung der Blätter geniessen, sich selbst feiner ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen müsse«. Alle diese Dinge werden verständlich, wenn man ihnen den von Goethe gemeinten Sinn beilegt.

Die hier dargelegten Ideen sind die im Wesen der Urpflanze gelegenen Elemente und zwar in der bloss dieser selbst angemessenen Weise, nicht so, wie sie in einer bestimmten Pflanze zur Erscheinung kommen, wo sie nicht mehr ursprünglich, sondern den äusseren Verhältnissen angemessen sind.

Beim Tierleben tritt nun freilich etwas anderes ein. Das Leben verliert sich hier nicht in der Aeusserlichkeit, sondern es separiert sich, sondert sich von der Körperlichkeit ab und gebraucht die körperliche Erscheinung nur noch als sein Werkzeug. Es äussert sich nicht mehr als blosses Vermögen, einen Organismus von innen heraus zu gestalten, sondern es äussert sich in einem Organismus als etwas, was noch ausser dem Organismus, als dessen beherrschende Macht, da ist. Das Tier erscheint als eine in sich beschlossene Welt, ein Mikrokosmos in viel höherem Sinne als die Pflanze. Es hat ein Zentrum, dem jedes Organ dient.

»So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen,

Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos

Oder mächtig der Kiefer gezähnt; in jeglichem Falle

Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.

Auch bewegt sich jeglicher Fuss, der lange, der kurze

Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis«.

Bei der Pflanze ist in jedem Organe die ganze Pflanze, aber das Lebensprinzip existiert nirgends als ein bestimmtes Zentrum, die Identität der Organe liegt in der Gestaltung nach denselben Gesetzen. Beim Tiere erscheint jedes Organ als aus jenem Zentrum kommend, das Zentrum bildet seinem Wesen gemäss alle Organe. Die Gestalt des Tieres ist also die Grundlage für sein äusserliches Dasein. Sie ist aber von innen bestimmt. Die Lebensweise muss sich also nach jenen inneren Gestaltungsprinzipien richten. Andrerseits ist die innere Bildung in sich unumschränkt, frei; sie kann sich den äusseren Einflüssen innerhalb |70 gewisser Grenzen fügen; doch ist diese Bildung eine durch die innere Natur des Typus und nicht durch mechanische Einwirkungen von aussen bestimmte. Die Anpassung kann also nicht so weit gehen, dass sie den Organismus nur als ein Produkt der Aussenwelt erscheinen liesse. Seine Bildung ist eine in Grenzen eingeschränkte.

»Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie:

Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich«.

Wäre jedes tierische Wesen nur den im Urtier liegenden Prinzipien gemäss, so wären sie alle gleich. Nun aber gliedert sich der tierische Organismus in eine Menge von Organsystemen, die jedes bis zu einem bestimmten Grad der Ausbildung kommen können. Dieses begründet nun eine verschiedenartige Entwicklung. Der Idee nach gleichberechtigt mit allen andern, kann sich doch ein System besonders in den Vordergrund drängen, kann den im tierischen Organismus liegenden Vorrat von Bildungskräften auf sich verwenden und ihn den anderen Organen entziehen. Das Tier erscheint so nach der Richtung jenes Organsystems hin besonders ausgebildet. Ein anderes Tier erscheint nach einer anderen Richtung gebildet. Hierin liegt die Möglichkeit der Differenzierung des Urorganismus bei seinem Uebergange in die Erscheinung in Gattungen und Arten.

Die wirklichen (tatsächlichen) Ursachen der Differenzierung sind damit aber noch nicht gegeben. Hier treten in ihre Rechte: die Anpassung, welcher zufolge der Organismus den ihn umgebenden äusseren Verhältnissen gemäss gestaltet, und der Kampf ums Dasein, der darauf hinarbeitet, dass nur die den obwaltenden Umständen am besten angepassten Wesen sich erhalten. Anpassung und Kampf ums Dasein könnten aber am Organismus gar nichts bewirken, wenn das den Organismus konstituierende Prinzip nicht ein solches wäre, das bei stets aufrecht erhaltener innerer Einheit die mannigfaltigsten Formen annehmen kann. Der Zusammenhang der äusseren Bildungskräfte mit diesem Prinzipe ist keineswegs so aufzufassen, als wenn die ersteren auf die letzteren etwa in der Art |71 bestimmend einwirkten, wie ein unorganisches Wesen auf ein anderes. Die äusseren Verhältnisse sind zwar die Veranlassung, dass sich der Typus in einer bestimmten Form ausbildet; diese Form selbst aber ist nicht aus den äusseren Bedingungen, sondern aus dem inneren Prinzipe herzuleiten. Man wird bei dieser Erklärung die ersteren immer aufzusuchen haben, die Gestalt selbst aber hat man nicht als ihre Folge zu betrachten. Das Ableiten von Gestaltungsformen eines Organismus aus der umgebenden Aussenwelt durch blosse Kausalität würde Goethe geradeso verworfen haben, wie er es mit dem teleologischen Prinzip getan hat, wonach die Form eines Organes auf einen äusseren Zweck, dem es zu dienen hätte, zurückgeführt wurde.

Bei denjenigen Organsystemen des Tieres, bei denen es mehr auf die Aeusserlichkeit des Baues ankommt, z. B. bei den Knochen, da tritt auch jenes bei den Pflanzen beobachtete Gesetz wieder hervor, wie bei der Bildung der Schädelknochen. Die Gabe Goethes, die innere Gesetzmässigkeit in rein äusserlichen Formen zu erkennen, tritt hier ganz besonders hervor.

Der Unterschied, der mit diesen Anschauungen Goethes zwischen Pflanze und Tier festgestellt wird, könnte belanglos erscheinen angesichts dessen, dass die neuere Wissenschaft Gründe zu berechtigten Zweifeln an einer festen Grenze zwischen Pflanze und Tier hat. Der Unmöglichkeit der Aufstellung einer solchen Grenze war sich aber Goethe schon bewusst (siehe Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 1. Band, S. 11, 6–18). Dennoch gibt er bestimmte Definitionen von Pflanze und Tier. Das hängt mit seiner ganzen Naturanschauung zusammen. Er nimmt in der Erscheinung überhaupt kein Konstantes, Festes an; denn in letzterer schwankt alles in steter Bewegung. Das im Begriffe festzuhaltende Wesen einer Sache ist aber nicht schwankenden Formen zu entnehmen, sondern gewissen mittleren Stufen, auf denen es sich beobachten lässt (siehe Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Kürschners National-Literatur S. 8, 21–24). Es ist für Goethes Anschauung ganz natürlich, dass man bestimmte Definitionen aufstellt und diese trotzdem in der Erfahrung von gewissen Uebergangsgebilden |72 nicht festgehalten werden. Ja er sieht gerade darin das bewegliche Leben der Natur.

 

Mit diesen Ideen hat Goethe  die theoretische Grundlage für die organische Wissenschaft begründet. Er hat das Wesen des Organismus gefunden. Man kann dieses leicht verkennen, wenn man verlangt, dass der Typus, jenes sich aus sich heraus gestaltete Prinzip (Entelechie), selbst durch etwas Anderes erklärt werden solle. Aber dies ist eine unbegründete Forderung, weil der Typus, in intuitiver Form festgehalten, sich selbst erklärt. Für jeden, der jenes »sich nach sich selbst formen« des entelechischen Prinzips erfasst hat, bildet dieses die Lösung des Lebensrätsels. Eine andere Lösung ist unmöglich, weil jene das Wesen der Sache selbst ist. Wenn der Darwinismus einen Urorganismus voraussetzen muss, so kann man von Goethe sagen, dass er das Wesen jenes Urorganismus entdeckt hat. Goethe ist es, welcher mit dem blossen Nebeneinanderreihen der Gattungen und Arten brach und eine Regeneration der organischen Wissenschaft dem Wesen des Organismus gemäss vornahm. Während die Vor-Goethesche Systematik ebenso viele verschiedene Begriffe (Ideen) brauchte, als äusserlich verschiedene Gattungen existieren, zwischen denen sich keine Vermittlung fand, erklärte Goethe, dass der Idee nach alle Organismen gleich, nur der Erscheinung nach verschieden sind; und er erklärte, warum sie es sind. Damit war die philosophische Grundlage für ein wissenschaftliches System der Organismen geschaffen. Es handelte sich nur noch um die Ausführung desselben. |73 Es müsste gezeigt werden, wie alle reellen Organismen nur Offenbarungen einer Idee seien und wie sie sich in einem bestimmten Falle offenbaren.

Die grosse Tat, welche damit in der Wissenschaft getan war, wurde auch mannigfach von tiefer gebildeten Gelehrten anerkannt. Der jüngere d᾽Alton schreibt am 6. Juli 1827 an Goethe: »Ich würde es für die schönste Belohnung erachten, wenn Euer Exzellenz, dem die Naturwissenschaft nicht allein eine völlige Umgestaltung in grossartigen Ueberblicken und neuen Ansichten der Botanik, sondern selbst vielfache Bereicherungen der Knochenlehre verdankt, in vorliegenden Blättern ein beifallswertes Bestreben erkennten.« Nees von Esenbeck am 24. Juni 1820: »In Ihrer Schrift, die Sie einen ›Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären‹, nannten, hat zuerst die Pflanze unter uns über sich selbst geredet und in dieser schönen Vermenschlichung auch mich, als ich noch jung war, bestrickt.« Endlich Voigt am 6. Juni 1831: »Mit lebhafter Teilnahme und untertänigem Dank habe ich die kleine Schrift über die Metamorphose angefangen, welche mich als so frühen Teilnehmer an dieser Lehre nun auch auf das verbindlichste historisch einverleibt. Es ist sonderbar, man ist gegen die animalische Metamorphose (ich meine nicht die alte der Insekten, sondern die von der Wirbelsäule ausgehende) billiger gewesen, als gegen die vegetabilische. Abgesehen von den Plagiaten und Missbräuchen, möchte die stille Anerkennung darin ihren Grund haben, dass man bei ihr weniger zu riskieren glaubte. Denn beim Skelett bleiben die isolierten Knochen ewig dieselben, in der Botanik aber droht die Metamorphose die ganze Terminologie und folglich die Bestimmung der Spezies umzuwerfen, und da fürchten sich denn die Schwachen, weil sie nicht wissen, wohin so etwas führen könne.« Hier ist volles Verständnis der Goetheschen Ideen vorhanden. Es ist das Bewusstsein da, dass eine neue Art der Anschauung des Individuellen Platz greifen müsse; und aus dieser neuen Anschauung sollte erst die neue |74 Systematik, die Betrachtung des Besonderen hervorgehen. Der auf sich selbst gebaute Typus enthält die Möglichkeit, bei seinem Eintreten in die Erscheinung unendlich mannigfaltige Formen anzunehmen; und diese Formen sind der Gegenstand unserer sinnlichen Anschauung, sie sind die im Raume und in der Zeit lebenden Gattungen und Arten der Organismen. Indem unser Geist jene allgemeine Idee, den Typus erfasst, hat er das ganze Organismenreich in seiner Einheit begriffen. Wenn er nun die Gestaltung des Typus in jeder besonderen Erscheinungsform anschaut, wird ihm die letztere begreiflich; sie erscheint ihm als eine der Stufen, der Metamorphosen, in denen sich der Typus verwirklicht. Und diese verschiedenen Stufen aufzuzeigen, sollte das Wesen der durch Goethe zu begründenden Systematik sein. Sowohl im Tier-, wie im Pflanzenreiche herrscht eine aufsteigende Entwicklungsreihe; die Organismen gliedern sich in vollkommene und unvollkommene. Wie ist dieses möglich? Die ideelle Form, der Typus der Organismen hat eben das Charakteristische, dass er aus räumlich-zeitlichen Elementen besteht. Er erschien deshalb auch Goethe als eine sinnlich-übersinnliche Form. Er enthält räumlich-zeitliche Formen als ideelle Anschauung (intuitiv). Wenn er nun in die Erscheinung tritt, kann die wahrhaft (nicht mehr intuitiv) sinnliche Form jener ideellen völlig entsprechen oder nicht; es kann der Typus zu seiner vollkommenen Ausbildung kommen oder nicht. Die niederen Organismen sind eben dadurch die niederen, dass ihre Erscheinungsform nicht völlig dem organischen Typus entspricht. Je mehr äussere Erscheinung und organischer Typus in einem bestimmten Wesen sich decken, desto vollkommener ist dasselbe. Dies ist der objektive Grund einer aufsteigenden Entwicklungsreihe. Die Aufzeigung dieses Verhältnisses bei jeder Organismenform ist die Aufgabe einer systematischen Darstellung. Bei Aufstellung des Typus, der Urorganismen, kann aber hierauf keine Rücksicht genommen werden; es kann sich dabei nur darum handeln, eine Form zu finden, welche den vollkommensten Ausdruck des Typus darstellt. Eine solche soll Goethes Urpflanze bieten.

Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, dass er bei Aufstellung seines Typus auf die Welt der Kryptogamen |75 keine Rücksicht genommen habe. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, dass dieses nur in völlig bewusster Weise geschehen sein kann, da er sich mit dem Studium dieser Pflanzen auch beschäftigt hat. Es hat aber seinen objektiven Grund. Die Kryptogamen sind eben jene Pflanzen, in denen die Urpflanze nur höchst einseitig zum Ausdrucke kommt; sie stellen die Pflanzenidee in einer einseitigen sinnenfälligen Form dar. Sie können an der aufgestellten Idee beurteilt werden; diese selbst aber kommt in den Phanerogamen erst zu ihrem völligen Ausbruche.

Was aber hier zu sagen ist, ist dieses, dass Goethe diese Ausführung seiner Grundgedanken nie vollbracht hat, dass er das Reich des Besonderen zu wenig betreten hat. Daher bleiben alle seine Arbeiten fragmentarisch. Seine Absicht, auch hier Licht zu schaffen, zeigen uns seine Worte in der italienischen Reise (27. September 1786), dass es ihm mit Hilfe seiner Ideen möglich sein werde, »Geschlechter und Arten wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich dünkt, bisher sehr willkürlich geschieht«. Dieses Vorhaben hat er nicht ausgeführt, den Zusammenhang seiner allgemeinen Gedanken mit der Welt des Besonderen, mit der Wirklichkeit der einzelnen Formen nicht besonders dargelegt. Dies sah er selbst als einen Mangel seiner Fragmente an; er schreibt am 28. Juni 1828 darauf bezüglich an Soret von de Candolle: »Auch wird mir immer klarer, wie er die Intentionen ansieht, in denen ich mich fortbewege und die in meinem kurzen Aufsatze über die Metamorphose zwar deutlich genug ausgesprochen sind, deren Bezug aber auf die Erfahrungsbotanik, wie ich längst weiss, nicht deutlich genug hervorgeht.« Dies ist wohl auch der Grund, warum Goethes Anschauungen so missverstanden wurden; denn sie wurden es nur deshalb, weil sie überhaupt nicht verstanden wurden.

In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung für die durch Darwin und Häckel gefundene Tatsache, dass die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Häckel hier bietet, |76 doch nicht genommen werden. Es ist die Tatsache, dass jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist.  Häckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache. Die Erklärung dafür ist, dass jene Formen sowie jedes Individuum die Erscheinungsformen eines und desselben Urbildes sind, welches in aufeinanderfolgenden Zeitperioden die der Möglichkeit nach in ihm liegenden Gestaltungskräfte zur Entfaltung bringt. Jedes höhere Individuum ist eben dadurch vollkommener, dass es durch die günstigen Einflüsse seiner Umgebung nicht gehindert wird, sich seiner inneren Natur nach völlig frei zu entfalten. Muss das Individuum dagegen durch verschiedene Einwirkungen gezwungen auf einer niedrigeren Stufe stehen bleiben, so kommen nur einige von seinen inneren Kräften zur Erscheinung, und es ist dann bei ihm das ein Ganzes, was bei jenem vollkommeneren Individuum nur ein Teil eines Ganzen ist. Und auf diese Weise erscheint der höhere Organismus in seiner Entwicklung aus den niedrigeren zusammengesetzt oder auch die niedrigeren erscheinen in ihrer Entwicklung als Teile des höheren. Wir müssen daher in der Entwicklung eines höheren Tieres die Entwicklung aller niedrigeren wieder erblicken (biogenetisches Gesetz). So wie der Physiker nicht damit zufrieden ist, bloss die Tatsachen auszusprechen und zu beschreiben, sondern nach den Gesetzen derselben forscht, d. h. nach den Begriffen der Erscheinungen, so kann es auch demjenigen, der in die Natur der organischen Wesen eindringen will, nicht genügen, wenn er bloss die Tatsachen der Verwandtschaft, Vererbung, Kampf ums Dasein usw. anführt, sondern er will die diesen Dingen zugrunde liegenden Ideen erkennen. Dieses Streben finden wir bei Goethe. Was dem Physiker die drei Keplerschen Gesetze, das sind dem Organiker die Goetheschen Typusgedanken. Ohne sie ist uns die Welt ein blosses Labyrinth von Tatsachen. Dies wurde oft missverstanden. Man behauptet, der Begriff der Metamorphose im Sinne |77 Goethes wäre ein blosses Bild, das sich im Grunde nur in unserem Verstande durch Abstraktion vollzogen hat. Es wäre Goethe unklar gewesen, dass der Begriff von Verwandlung der Blätter in Blütenorgane nur dann einen Sinn habe, wenn letztere, z. B. die Staubgefässe, einmal wirkliche Blätter waren. Allein dies stellt Goethes Anschauungen auf den Kopf. Es wird ein sinnenfälliges Organ zum prinzipiell ersten gemacht und das andere auf sinnenfällige Weise daraus abgeleitet. So hat es Goethe nie gemeint. Bei ihm ist dasjenige, welches der Zeit nach das erste ist, durchaus nicht auch der Idee, dem Prinzipe nach das erste. Nicht weil die Staubgefässe einmal wahre Blätter waren, sind sie letzteren heute verwandt; nein, sondern weil sie ideell, ihrem inneren Wesen nach verwandt sind, erschienen sie einmal als wahre Blätter. Die sinnliche Verwandlung ist nur Folge der ideellen Verwandtschaft und nicht umgekehrt. Heute ist der empirische Tatbestand der Identität aller Seitenorgane der Pflanze bestimmt, aber warum nennt man diese identisch? Nach Schleiden, weil sich dieselben an der Achse alle so entwickeln, dass sie als seitliche Hervorragungen hinausgeschoben werden, in der Weise, dass die seitliche Zellenbildung nur an dem ursprünglichen Körper bleibt und an der zuerst gebildeten Spitze sich keine neuen Zellen bilden. Dies ist eine rein äusserliche Verwandtschaft, und man betrachtet als die Folge davon die Idee der Identität. Anders ist die Sache wieder bei Goethe. Die Seitenorgane sind bei ihm ihrer Idee, ihrem inneren Wesen nach identisch; daher erscheinen sie auch nach aussen als identische Bildungen. Die sinnenfällige Verwandtschaft ist bei ihm eine Folge der inneren, ideellen. Die Goethesche Auffassung unterscheidet sich von der materialistischen durch die Fragestellungen; beide widersprechen einander nicht, sie ergänzen einander. Goethes Ideen bilden zu jener die Grundlage. Nicht nur eine dichterische Prophezeiung späterer Entdeckungen sind Goethes Ideen, sondern selbständige theoretische Entdeckungen, die noch lange nicht genug gewürdigt sind, an denen die Naturwissenschaft noch lange zehren wird. Wenn die empirischen Tatsachen, die er benützte, längst durch genauere Detailforschungen überholt, teilweise sogar widerlegt |78 sein werden; die aufgestellten Ideen sind ein für allemal grundlegend für die Organik, denn sie sind von jenen empirischen Tatsachen unabhängig. Wie jeder neu aufgefundene Planet nach Keplers Gesetzen um seinen Fixstern kreisen muss, so muss jeder Vorgang in der organischen Natur nach Goethes Ideen geschehen. Lange vor Kepler und Kopernikus sah man die Vorgänge am gestirnten Himmel. Diese fanden erst die Gesetze. Lange vor Goethe beobachtete man das organische Naturreich, Goethe fand dessen Gesetze. Goethe ist der Kopernikus und Kepler der organischen Welt.

Man kann sich das Wesen der Goetheschen Theorie auch auf folgende Weise klar machen. Neben der gewöhnlichen empirischen Mechanik, welche nur die Tatsachen sammelt, gibt es noch eine rationelle Mechanik, welche aus der inneren Natur der mechanischen Grundprinzipien die aprioristischen Gesetze als notwendige deduziert. So wie die erstere zur letzteren, so verhalten sich Darwins, Häckels usw. Theorien zur rationellen Organik Goethes. Diese Seite seiner Theorie war Goethe vom Anfange an nicht sogleich klar. Später freilich spricht er sie schon ganz entschieden aus. Wenn er am 21. Januar 1832 an Heinr. Wilh. Ferd. Wackenroder schreibt: »Fahren Sie fort, mit allem, was Sie interessiert, mich bekannt zu machen; es schliesst sich irgendwo an meine Betrachtungen an,« so will er damit nur sagen, dass er die Grundprinzipien der organischen Wissenschaft gefunden habe, aus denen sich alles übrige müsse ableiten lassen. In früherer Zeit aber wirkte das alles unbewusst in seinem Geiste und er behandelte die Tatsachen darnach. Gegenständlich wurde es ihm erst durch jenes erste wissenschaftliche Gespräch mit Schiller, welches wir unten mitteilen. Schiller erkannte sogleich die ideelle Natur von Goethes Urpflanze und behauptete, einer solchen könne keine Wirklichkeit angemessen sein. Das regte Goethe an, über das Verhältnis dessen, was er Typus nannte, zur |79 empirischen Wirklichkeit nachzudenken. Er traf hier auf ein Problem, welches zu den bedeutsamsten des menschlichen Forschens überhaupt gehört: das Problem des Zusammenhangs von Idee und Wirklichkeit, von Denken und Erfahrung. Das wurde ihm immer klarer: die einzelnen empirischen Objekte entsprechen keines seinem Typus vollkommen; kein Wesen der Natur war mit ihm identisch. Der Inhalt des Typusbegriffes kann also nicht aus der Sinnenwelt als solcher stammen, obwohl er an derselben gewonnen wird. Er muss also in dem Typus selbst liegen; die Idee des Urwesens konnte nur eine solche sein, welche vermöge einer in ihr selbst liegenden Notwendigkeit einen Inhalt aus sich entwickelt, der dann in anderer Form – in Form der Anschauung – in der Erscheinungswelt auftritt. Es ist in dieser Hinsicht interessant, zu sehen, wie Goethe selbst empirischen Naturforschern gegenüber für die Rechte der Erfahrung und die strenge Auseinanderhaltung von Idee und Objekt eintritt. Sömmerring übersendet ihm im Jahre 1796 ein Buch, in dem er (Sömmerring) den Versuch macht, den Sitz der Seele zu entdecken. Goethe findet in einem Briefe, den er am 28. August 1796 an Sömmerring richtet, dass dieser zu viel Metaphysik mit seinen Anschauungen verwoben habe; eine Idee über Gegenstände der Erfahrung habe keine Berechtigung, wenn sie über diese hinausginge, wenn sie nicht im Wesen der Objekte selbst begründet ist. Bei Objekten der Erfahrung sei die Idee ein Organ, das als notwendigen Zusammenhang zu fassen, was sonst im blinden Neben- und Nacheinander bloss wahrgenommen würde. Daraus aber, dass die Idee nichts Neues zu dem Objekte hinzubringen darf, folgt, dass das letztere selbst, seinem eigenen Wesen nach, ein Ideelles ist, dass überhaupt die empirische Realität zwei Seiten haben muss: die eine, wonach sie Besonderes, Individuelles, die andere, wonach sie Ideell-Allgemeines ist.

Der Umgang mit den zeitgenössischen Philosophen, sowie die Lektüre der Werke derselben führte Goethe manchen Gesichtspunkt in dieser Hinsicht zu. Schellings Werk von der Weltseele und dessen Entwurf einer Naturphilosophie (Annalen, 1798–1799) sowie Steffens Grundzüge der gesamten |80 Naturwissenschaft wirkten befruchtend auf ihn ein. Auch mit Hegel wurde manches durchgesprochen. Diese Anregungen führten endlich dahin, dass Kant, mit dem sich Goethe schon einmal, durch Schiller angeregt, beschäftigt hatte, wieder vorgenommen wurde. 1817 (siehe Annalen) betrachtete er geschichtlich dessen Einfluss auf seine Ideen über Natur und natürliche Dinge. Diesem auf das Zentrale der Wissenschaft gehenden Nachdenken verdanken wir die Aufsätze:

Glückliches Ereignis,

Anschauende Urteilskraft,

Bedenken und Ergebung,

Bildungstrieb,

Das Unternehmen wird entschuldigt,

Die Absicht eingeleitet,

Der Inhalt bevorwortet,

Geschichte meines botanischen Studiums,

Entstehen des Aufsatzes über Metamorphose der Pflanzen.

Alle diese Aufsätze sprechen den oben schon angedeuteten Gedanken aus, dass jedes Objekt zwei Seiten hat: die eine unmittelbare seines Erscheinens (Erscheinungsform), die zweite, welche sein Wesen enthält. So gelangt Goethe zu der allein befriedigenden Naturanschauung, welche die eine wahrhaft objektive Methode begründet. Wenn eine Theorie die Idee als etwas dem Objekte selbst Fremdes, bloss Subjektives betrachtet, so kann sie nicht behaupten, wahrhaft objektiv zu sein, wenn sie sich nur überhaupt der Idee bedient. Goethe aber kann behaupten, nichts zu den Objekten hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selbst läge.

Auch ins Einzelne, Tatsächliche hin verfolgte Goethe jene Wissenszweige, auf welche seine Ideen Bezug hatten. Im Jahre 1795 (siehe Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen I, 49) hörte er bei Loder Bänderlehre; er verlor überhaupt in dieser Zeit die Anatomie und Physiologie nicht aus den Augen, was um so wichtiger erscheint, als er gerade damals seine Vorträge über Osteologie niederschrieb. 1796 wurden Versuche gemacht, Pflanzen im Finstern und unter farbigen Gläsern zu erziehen. Später wurde auch die Metamorphose der Insekten verfolgt. |81

Eine weitere Anregung kam von dem Philologen Wolf, der Goethe auf seinen Namensvetter Wolff aufmerksam machte, welcher in seiner Theoria generationis schon im Jahre 1759 Ideen ausgesprochen hatte, die denen Goethes über die Metamorphose der Pflanzen ähnlich waren. Goethe wurde dadurch veranlasst, sich mit Wolff eingehender zu beschäftigen, welches im Jahre 1807 geschah (siehe Annalen 1807 und Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Kürschners National-Literatur 1. Band S. 5,1); er fand indes später, dass Wolff bei all seinem Scharfsinn gerade die Hauptsachen noch nicht klar waren. Den Typus als ein Unsinnliches, seinen Inhalt bloss aus innerer Notwendigkeit Entwickelndes, kannte er noch nicht. Er betrachtete die Pflanze noch als einen äusserlichen, mechanischen Zusammenhang von Einzelheiten.

Der Verkehr mit zahlreichen befreundeten Naturforschern sowie die Freude darüber, dass er bei vielen verwandten Geistern Anerkennung und Nachahmung seines Strebens gefunden hatte, brachten Goethe im Jahre 1807 auf den Gedanken, die bis dahin zurückgehaltenen Fragmente seiner naturwissenschaftlichen Studien herauszugeben. Von dem Vorhaben, ein grösseres naturwissenschaftliches Werk zu schreiben, kam er allmählich ab. Es kam aber zur Herausgabe der einzelnen Aufsätze im Jahre 1807 noch nicht. Das Interesse an der Farbenlehre drängte die Morphologie wieder für einige Zeit in den Hintergrund. Das erste Heft derselben erschien erst im Jahre 1817. Bis 1824 erschienen dann zwei Bände, der erste in vier, der zweite in zwei Heften. Neben den Aufsätzen über Goethes eigene Ansichten finden wir hier Besprechungen bedeutenderer literarischer Erscheinungen aus dem Gebiete der Morphologie und auch Abhandlungen anderer Gelehrter, deren Ausführungen sich aber stets ergänzend zu Goethes Naturerklärung verhalten.

Zu einer intensiveren Beschäftigung fand sich Goethe in bezug auf die Naturwissenschaft noch zweimal aufgefordert. In beiden Fällen waren es bedeutende literarische Erscheinungen auf dem Gebiete dieser Wissenschaft, die mit seinen eigenen |82 Bestrebungen innigst zusammenhingen. Das erstemal ward durch die Arbeiten des Botanikers Martius über die Spiraltendenz die Anregung gegeben, das zweitemal durch einen naturwissenschaftlichen Streit in der französischen Akademie der Wissenschaften.

Martius setzte die Pflanzenform in ihrer Entwicklung aus einer Spiral- und einer Vertikaltendenz zusammen. Die Vertikaltendenz bewirkt das Wachsen in der Richtung der Wurzel und des Stengels; die Spiraltendenz die Ausbreitung in den Blättern, Blüten usw. … Goethe sah in diesem Gedanken nur eine mehr auf das Räumliche (vertikal, spiral) Rücksicht nehmende Ausbildung seiner bereits in der Schrift über die Metamorphose 1790 niedergelegten Ideen. Bezüglich des Beweises dieser Behauptung verweisen wir auf die Anmerkungen zu Goethes Aufsatz über die Spiraltendenz der Natur,   aus denen hervorgeht, dass Goethe in demselben nichts wesentlich Neues gegenüber seinen früheren Ideen vorbringt. Wir möchten dieses besonders an jene richten, welche behaupten, dass hier sogar ein Rückschnitt Goethes von früheren klaren Anschauungen bis zu den »tiefsten Tiefen der Mystik« wahrzunehmen sei.

Noch im höchsten Alter (1830–32) verfasste Goethe zwei Aufsätze über den Streit der beiden französischen Naturforscher Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire. In diesen Aufsätzen finden wir noch einmal in schlagender Kürze die Prinzipien von Goethes Naturanschauung zusammengestellt.

Cuvier war ganz im Sinne der älteren Naturforscher Empiriker. Für jede Tierart suchte er einen ihr entsprechenden, besonderen Begriff. So viele einzelne Tierarten die Natur darbietet, so viele einzelne Typen glaubte er in den gedanklichen Aufbau seines Systems der organischen Natur aufnehmen zu müssen. Die einzelnen Typen standen bei ihm aber ganz unvermittelt nebeneinander. Was er nicht berücksichtigte, ist folgendes. Mit dem Besonderen als solchem, wie es uns unmittelbar in der Erscheinung gegenübertritt, ist unser Erkenntnisbedürfnis nicht befriedigt. Da wir aber einem Wesen der Sinnenwelt mit keiner anderen Absicht gegenübertreten, als eben dieses Wesen zu erkennen, so ist nicht anzunehmen, dass der Grund, warum wir uns mit dem |83 Besonderen als solchem nicht befriedigt erklären, in unserem Erkenntnisvermögen liege. Er muss vielmehr im Objekte selbst liegen. Das Wesen des Besonderen selbst ist in dieser seiner Besonderheit eben durchaus noch nicht erschöpft; es drängt, um verstanden zu werden, zu einem solchen hin, welches kein Besonderes, sondern ein Allgemeines ist. Dieses Ideell-Allgemeine ist das eigentliche Wesen – die Essenz – eines jeden besonderen Daseins. Das letztere hat in der Besonderheit nur eine Seite seines Daseins, während die zweite das Allgemeine – der Typus – ist (siehe Goethes Sprüche in Prosa, Naturwissenschaftliche Schriften, in Kürschners National-Literatur 4. Band, 2. Abt). So ist es zu verstehen, wenn von dem Besonderen als einer Form des Allgemeinen gesprochen wird. Da das eigentliche Wesen, die Inhaltlichkeit des Besonderen somit das Ideell-Allgemeine ist, so ist es unmöglich, dass das letztere aus dem Besonderen hergeleitet, von ihm abstrahiert werde. Es muss, da es nirgends seinen Inhalt entlehnen kann, sich diesen Inhalt selbst geben. Das Typisch-Allgemeine ist mithin ein solches, bei dem Inhalt und Form identisch sind. Deswegen kann es aber auch nur als ein Ganzes erfasst werden, unabhängig vom Einzelnen. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, an jedem Besonderen zu zeigen, wie dasselbe, seinem Wesen nach, sich dem Ideell-Allgemeinen unterordnet. Dadurch treten die besonderen Arten des Daseins in das Stadium gegenseitiger Bestimmtheit und Abhängigkeit. Was sonst nur als räumlich-zeitliches Neben- und Nacheinander wahrgenommen werden kann, wird im notwendigen Zusammenhange gesehen. Cuvier wollte aber von letzterer Anschauung nichts wissen. Sie war hingegen diejenige Geoffroy Saint-Hilaires. So stellt sich in Wirklichkeit jene Seite dar, von welcher aus Goethe für jenen Streit Interesse hatte. Die Sache wurde vielfach dadurch entstellt, dass man durch die Brille modernster Anschauungen die Tatsachen in einem ganz anderen Lichte erblickte, als in dem sie erscheinen, wenn man ohne Voreingenommenheit an sie herantritt. Geoffroy berief sich nicht nur auf seine eigenen Forschungen, sondern auch auf mehrere deutsche Gesinnungsgenossen und nennt unter diesen auch Goethe. |84

Das Interesse, welches Goethe an dieser Sache hatte, war ein ausserordentliches. Er war hocherfreut, in Geoffroy de Saint-Hilaire einen Genossen zu finden: »Jetzt ist Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch die meinige ist,« sagt er am 2. August 1830 zu Eckermann (Gespräche III. Teil.) Es ist überhaupt eine eigentümliche Erscheinung, dass Goethes Forschungen in Deutschland nur bei den Philosophen, weniger aber bei den Naturforschern, in Frankreich hingegen bei letzteren bedeutenderen Anklang fanden. De Candolle schenkte der Goetheschen Metamorphosenlehre die grösste Aufmerksamkeit, behandelte überhaupt die Botanik in einer Weise, welche den Goetheschen Anschauungen nicht ferne stand. Auch war Goethes »Metamorphose« bereits durch Gingins-Lassaraz ins Französische übersetzt. Unter solchen Verhältnissen konnte Goethe wohl hoffen, dass eine unter seiner Mitwirkung besorgte Uebersetzung seiner botanischen Schriften ins Französische nicht auf unfruchtbaren Boden fallen werde. Eine solche lieferte denn auch 1831 unter Goethes fortwährender Beihilfe Friedrich Jakob Soret. Sie enthielt jenen ersten »Versuch« von 1790 (vgl. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Kürschners National-Literatur 1. Band, S. 17 ff.); die Geschichte des botanischen Studiums Goethes (ebenda S. 61 ff.) und die Wirkung seiner Lehre auf die Zeitgenossen (ebenda S. 194 ff.); sowie einiges über de Candolle französisch mit gegenüberstehendem deutschen Text. |

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