Die Philosophie
Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:
Die Stufen der
höheren Erkenntnis
Die Stufen der höheren Erkenntnis.
(Der Schüler und der »Guru«.)
Eine Zwischenbetrachtung zu
»Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?«
Von Dr. Rudolf Steiner.
(Fortsetzung aus Heft 30.)
SE, 249-255
Es ist ganz unmöglich, wirkliche Fortschritte in bezug auf das Vordringen in höhere Welten zu machen, ohne durch die Stufen der imaginativen Erkenntnis hindurchzugehen. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß bei der Geheimschulung der Mensch eine gewisse Zeit hindurch auf dieser Stufe der Imagination unbedingt stehen bleiben müsse, so daß diese so etwas wie eine Schulklasse bilden müsse, die man abzusitzen hat. Es kann dies in gewissen Fällen notwendig sein, muß es aber durchaus nicht. Das hängt ganz davon ab, was der Geheimschüler erlebt hat, bevor er in die Geheimschulung eintritt. Es wird sich im weiteren Verlaufe dieser Auseinandersetzungen zeigen, daß darauf die geistige Umgebung des Geheimschülers von Bedeutung ist, und daß sich auf das Verhältnis zur geistigen Umgebung sogar ganz verschiedene Methoden des »Erkenntnispfades« begründen.
Es kann von außerordentlicher Wichtigkeit sein, das Folgende zu wissen, wenn man sich auf den Weg der Geheimschulung begibt. Nicht nur als eine interessante Theorie kommt es in Betracht, sondern als etwas, dem man die mannigfaltigsten praktischen Gesichtspunkte wird entnehmen können, wenn man auf dem »Wege zur höheren Erkenntnis« wirklich bestehen will.
Man hört ja von solchen, welche eine höhere Entwickelung anstreben, oft sagen: Ich möchte mich geistig vervollkommnen, ich möchte »den höheren Menschen« in mir ausbilden, aber nach den Erscheinungen der »astralen Welt« trage ich kein Verlangen. Dies ist begreiflich, wenn man in Betracht zieht, welche Schilderung von dieser »astralen Welt« sich in Büchern findet, die von diesen Dingen handeln. Da wird ja von Erscheinungen und Wesenheiten gesprochen, welche dem Menschen alle möglichen Gefahren bringen. Da wird gesagt, daß unter dem Einflusse solcher Wesenheiten der Mensch nur gar zu leicht an seiner moralischen Gesinnung und intellektuellen Gesundheit Schaden nehmen könne. Es wird dem Leser nahe gebracht, daß auf diesem Gebiete die Scheidewand zwischen »dem guten und dem bösen Pfade« einem »Spinnewebchen« an Dicke gleichkomme und der Fall in unermessliche Abgründe, der Absturz in völlige Verworfenheit nur allzu nahe liege. – Es ist ganz gewiß unmöglich, solchen Behauptungen einfach zu widersprechen. Und doch ist der Standpunkt, den man in vielen Fällen dem Betreten des Geheimpfades gegenüber einnimmt, keineswegs ein richtiger. Der einzig mögliche Gesichtspunkt ist vielmehr lediglich derjenige, welcher sagt: wegen der Gefahren darf niemand abgehalten werden, den Weg zur höheren Erkenntnis zu gehen, aber es muß in jedem Falle streng dafür gesorgt werden, daß diese Gefahren bestanden werden können. Das wird in manchen Fällen allerdings dazu führen, daß einem Menschen, der von einem Geheimlehrer Anweisungen zur Schulung erbittet, zunächst der Rat gegeben |250 wird, mit dieser eigentlichen Schulung noch zu warten und erst gewisse Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens durchzumachen, oder Dinge zu lernen, welche in der physischen Welt gelernt werden können. Es wird dann die Aufgabe des Geheimlehrers sein, dem suchenden Menschen die rechte Anleitung zu geben, um solche Erfahrungen zu sammeln und solche Dinge zu lernen. In weitaus den meisten Fällen wird man es erleben, daß der Geheimlehrer zunächst so verfährt. Wenn dann der Schüler nur genügend aufmerksam ist auf das, was ihm nun zustößt, nachdem er mit dem Geheimlehrer in Verbindung getreten ist, dann wird er das Mannigfaltigste bemerken können. Er wird finden, daß er nunmehr wie durch »Zufall« Erlebnisse hat und Dinge beobachten kann, denen er ganz gewiß ohne die Verbindung mit dem Geheimlehrer nicht ausgesetzt gewesen wäre. Wenn die Schüler das oft nicht bemerken und ungeduldig werden, dann liegt das nur darin, daß sie eben nicht die nötige Aufmerksamkeit ihren Erlebnissen zuwenden. Man muß auch durchaus nicht glauben, daß sich die Wirkung des Geheimlehrers auf den Schüler in deutlich wahrnehmbaren »Zauberkunststückchen« abspielt. Diese Wirkung ist vielmehr eine ganz intime Sache, und wer nach ihrer Natur und Wesenheit forschen will, ohne selbst schon eine gewisse Stufe der Geheimschulung erreicht zu haben, der wird ganz gewiß in die Irre gehen. Der Schüler fügt sich selbst in jedem Falle ein Unrecht zu, wenn er ungeduldig darüber wird, daß er auf »Wartezeit« gesetzt ist. Er wird dadurch in bezug auf die Schnelligkeit seines Weges durchaus nicht aufgehalten. Im Gegenteile, sein Vorwärtskommen würde gerade dadurch verlangsamt, wenn er zu früh mit der oft von ihm ungeduldig erwarteten Schulung beginnen würde.
Läßt der Schüler die »Wartezeit« oder die sonstigen Ratschläge und Winke des Geheimlehrers in der richtigen Art auf sich wirken, so bereitet er sich tatsächlich dazu vor, gewissen Prüfungen und Gefahren standzuhalten, die an ihn herankommen, wenn er der für ihn unvermeidlichen Stufe der Imagination entgegentritt. – Unvermeidlich ist diese Stufe aus dem Grunde, weil jeder, der eine Verbindung mit der höheren Welt ohne ihr Durchschreiten sucht, dies nur unbewußt tun kann, und dazu verurteilt ist, im Dunkeln zu tappen. Man kann sich ein dunkles Gefühl von dieser höheren Welt ohne die Imagination erwerben, man kann ohne sie gewiß zur Empfindung kommen, daß man mit »seinem Gotte« oder mit »seinem höheren Selbst« vereinigt sei, aber zu einer wirklichen Erkenntnis mit vollem Bewußtsein in heller, lichter Klarheit kann man so nicht kommen. Deshalb ist auch alles Reden davon, daß man die Auseinandersetzungen mit den »niederen Welten« (der astralen und der devachanischen) nicht brauche, daß es sich nur darum handeln könne, daß der Mensch »den Gott in sich erwecke«, nichts weiter als eine Illusion. – Wer damit zufrieden ist, dem soll in sein Streben nicht hineingeredet werden, und der Okkultist wird einem solchen auch nicht hineinreden. Aber der wahre Okkultismus hat mit solchem Streben gar nichts zu tun. Dieser fordert ja niemanden zur Schülerschaft unmittelbar auf. Wer aber seine Schulung sucht, dem will er nicht bloß eine dunkle Empfindung von seiner »Gottähnlichkeit« erwecken, sondern er sucht ihm die geistigen Augen zu öffnen für das, was in höheren Welten wirklich vorhanden ist.
Gewiß ist ja in jedem Menschen das »göttliche Selbst« enthalten. Aber das ist ja doch bei jedem Wesen der Fall. Im Stein, in der Pflanze, im Tier ist auch das »göttliche Selbst« enthalten und wirksam. Aber nicht darauf kann es ankommen, dies so ganz im allgemeinen zu fühlen und zu wissen, sondern darauf, wirklich in Verbindung zu treten mit den Offenbarungen dieses »göttlichen Selbstes«. So wie derjenige nichts von der physischen Welt weiß, der sich nur immer wieder sagen kann: diese Welt enthält in sich |251 verhüllt das »göttliche Selbst«, so weiß auch derjenige nichts von höheren Welten, welcher das »göttliche Geisterreich« nur in verschwommener, unbestimmter Allgemeinheit sucht. Man soll seine Augen öffnen und die Offenbarung der Gottheit in den Dingen der physischen Welt, im Stein, in der Pflanze anschauen, nicht davon träumen, daß dies jedoch alles nur »Erscheinungen« seien und daß Gottes wahre Gestalt dahinter »verborgen« sei. Nein, Gott offenbart sich in seinen Schöpfungen, und wer Gott erkennen will, muß das Wesen dieser Schöpfungen erkennen lernen. Deshalb muß man auch das wirklich anschauen lernen, was in höheren Welten vorgeht und lebt, wenn man das »Göttliche« erkennen will. Das Bewußtsein, daß der »Gottmensch« in Einem lebt, kann höchstens den Anfang bilden. Aber dieser Anfang wird, wenn er in rechter Weise erlebt wird, zum Antrieb, wirklich aufzusteigen in die höheren Welten. Das kann man aber nur, wenn man die geistigen »Sinne« dazu in sich ausbildet. Alles andere stellt sich ja doch nur auf den Standpunkt: Ich will bleiben, wie ich bin, und nur erreichen, was mir so zu erreichen möglich ist. Der Standpunkt des Okkultismus ist aber, ein anderer Mensch zu werden, damit man anderes als das Gewöhnliche schauen und erleben kann.
Und dazu ist eben der Durchgang durch die imaginative Erkenntnis notwendig. Oben ist gesagt worden, daß diese Imagination nicht aufgefasst zu werden braucht wie eine Schulklasse, die man durchaus »absitzen« müsse. Das ist so zu verstehen, daß es namentlich in unserem gegenwärtigen Leben Personen gibt, welche solche Vorbedingungen mitbringen, daß der Geheimlehrer bei ihnen gleichzeitig oder wenigstens fast gleichzeitig mit der imaginativen Erkenntnis die inspirierte und die intuitive hervorrufen kann. Aber es darf durchaus nicht so verstanden werden, als ob es irgend jemand geben könnte, dem der Durchgang durch die Imagination zu ersparen wäre.
Auf den Grund der Gefahr innerhalb der imaginativen Erkenntnis ist ja in den vorhergehenden Heften dieser Zeitschrift bereits hingedeutet worden. Dieser Grund liegt darin, daß der Mensch beim Eintritte in diese Welt gewissermaßen den Boden unter den Füßen verliert. Wodurch er in der physischen Welt Festigkeit hat, das geht ihm zunächst scheinbar ganz verloren. Nimmt man in dieser physischen Welt etwas wahr, so fragt man sich: woher kommt diese Wahrnehmung. Man tut das ja zumeist unbewußt. Aber man ist eben »unbewußt« darüber klar, daß die Ursachen der Wahrnehmungen die Gegenstände »draußen im Raume« sind. Die Farben, die Töne, die Gerüche gehen von diesen Gegenständen aus. Man sieht nicht freischwebende Farben, man hört nicht Töne, ohne daß man sich bewußt werden könnte, an welchen Gegenständen diese Farben als Eigenschaften »haften«, von welchen Gegenständen die Töne herrühren. Dieses Bewußtsein, daß die Gegenstände und Wesenheiten sie verursachen, gibt den physischen Wahrnehmungen und damit dem Menschen selbst Festigkeit und einen sicheren Halt. Hat jemand Wahrnehmungen ohne äußere Ursache, so spricht man von abnormen, krankhaften Zuständen. Man nennt solche ursachlose Wahrnehmungen Illusionen, Halluzinationen, Visionen.
Nun zunächst ganz äußerlich betrachtet, besteht die ganze imaginative Welt aus solchen Halluzinationen, Visionen und Illusionen. Es ist gezeigt worden, wie durch die Geheimschulung künstlich solche Visionen usw. erzeugt werden. Durch das Hinlenken des Bewußtseins auf ein Samenkorn oder auf eine absterbende Pflanze werden gewisse Gestalten vor die Seele gezaubert, die nichts weiter zunächst sind als Halluzinationen. Die »Flammenbildung«, von der in jenen Aufsätzen gesagt wurde, daß sie in der Seele auftreten kann, durch die Betrachtung einer Pflanze oder dergl. und die sich nach einer Zeit ganz loslöst von der Pflanze, ist, äußerlich betrachtet, |252 einer Halluzination gleichzuachten. Und so geht es doch weiter in der Geheimschulung, wenn man in die imaginative Welt eintritt. Das, wovon man gewöhnt war, daß es von den Dingen »draußen im Raum« ausgeht oder ihnen als Eigenschaft »anhaftet«, die Farben, Töne, Gerüche usw., erfüllen nun freischwebend den Raum. Die Wahrnehmungen lösen sich los von allen äußeren Dingen und schweben frei im Raume, oder fliegen darinnen herum. Und man weiß dabei doch ganz genau, daß die Dinge, die man da vor sich hat, diese Wahrnehmungen nicht hervorgebracht haben, daß man sie vielmehr »selbst« verursacht hat. So kommt es, daß man meinen muß, man habe »den Boden unter den Füßen verloren«. Im gewöhnlichen Leben, in der physischen Welt muß man sich ja gerade davor hüten, Vorstellungen zu haben, die nicht von den Dingen herrühren, die sozusagen, ohne »Grund und Boden« sind. Zur Hervorrufung der imaginativen Erkenntnis aber kommt es gerade darauf an, zunächst Farben, Töne, Gerüche usw. zu haben, die ganz losgelöst von allen Dingen »frei im Raume schweben«.
Nun muß die nächste Stufe der imaginativen Erkenntnis darin bestehen, einen neuen »Grund und Boden« für die herrenlos gewordenen Vorstellungen zu finden. Das muß eben in der anderen Welt geschehen, die sich jetzt offenbaren soll. Es bemächtigen sich neue Dinge und Wesenheiten dieser Vorstellungen. In der physischen Welt »haftet« z. B. die blaue Farbe an einer Kornblume. In der imaginativen Welt darf sie nun auch nicht »freischwebend« bleiben. Sie strömt gleichsam zu einer Wesenheit hin, und während sie noch vorher herrenlos war, wird sie jetzt der Ausdruck einer Wesenheit. Es spricht etwas durch sie zu dem Beobachter, was dieser eben nur innerhalb der imaginativen Welt wahrnehmen kann. Und so sammeln sich die »freischwebenden« Vorstellungen um bestimmte Mittelpunkte. Und man wird gewahr, daß Wesen durch sie zu uns sprechen. Und wie es in der physischen Welt körperliche Dinge und Wesenheiten sind, an denen Farben, Gerüche und Töne usw. »haften«, oder von denen sie herstammen, so sprechen sich jetzt »geistige Wesenheiten« durch sie aus. Diese »geistigen Wesenheiten« sind ja tatsächlich immer da; sie umschwirren den Menschen beständig. Aber sie können sich diesem nicht offenbaren, wenn er nicht die Gelegenheit dazu gibt. Und diese Gelegenheit gibt er nur dadurch, daß er in sich die Fähigkeit hervorruft, Töne, Farben usw. auch dann vor seiner Seele entstehen zu lassen, wenn diese durch keinen physischen Gegenstand veranlaßt werden.
Ganz anders sind die »geistigen Tatsachen und Wesenheiten« als die Dinge und Wesen der physischen Welt. Es ist nicht ganz leicht, in der gewöhnlichen Sprache einen Ausdruck zu finden, welcher die Verschiedenheit auch nur annähernd charakterisiert. Vielleicht kommt man der Sache am nächsten, wenn man sagt: in der imaginativen Welt spricht alles so zum Menschen, wie wenn es unmittelbar intelligent wäre, während in der physischen Welt auch die Intelligenz nur auf dem Umwege durch die physische Körperlichkeit sich offenbaren kann. Das macht eben die Beweglichkeit und Freiheit der imaginativen Welt aus, daß das Zwischenglied der äußeren Dinge fehlt, daß das Geistige ganz unmittelbar in den freischwebenden Tönen, Farben usw. sich auslebt.
Nun liegt der Grund zu einer Gefahr, welche dem Menschen von dieser Welt droht, darin, daß er die Aeußerungen der »geistigen Wesen« wahrnimmt, aber nicht diese Wesen selbst. Es ist das nämlich so lange der Fall, als er nur in der imaginativen Welt bleibt und zu keiner höheren aufsteigt. Erst die Inspiration und die Intuition führen ihn allmählich zu diesen Wesen selbst hin. – Wollte aber der Geheimlehrer diese letzteren vorschnell erwecken, ohne den Schüler gründlich in das imaginative Gebiet einzuführen, dann würde die höhere Welt nur ein |253 schatten- und schemenhaftes Dasein erhalten. Die ganze herrliche Fülle der Bilder ginge verloren, in denen sie sich offenbaren muß, wenn man wirklich in sie eintreten soll. – In dieser Tatsache liegt der Grund, warum der Geheimschüler einen »Führer« oder einen »Guru« braucht, wie man in der Geheimwissenschaft eben diesen Führer nennt.
Für den Schüler ist nämlich die imaginative Welt anfangs wirklich eine bloße »Bilderwelt«, von der er vielfach nicht weiß, was sie ausdrückt. Der »Guru« aber weiß, auf welche Dinge und Wesenheiten sich diese Bilder in einer noch höheren Welt beziehen. Hat der Schüler zu ihm Vertrauen, so kann er wissen, daß sich ihm später Zusammenhänge offenbaren werden, welche er vorläufig noch nicht durchschaut. In der physischen Welt waren die Gegenstände im Raume selbst die Führer. Er war imstande, die Richtigkeit seiner Vorstellungen zu prüfen. Die körperliche Wirklichkeit ist der »Fels«, an dem alle Halluzinationen und Illusionen zerschellen müssen. Dieser Fels verschwindet in einen Abgrund, wenn man in die imaginative Welt eintritt. Und deshalb muß als ein anderer solcher »Fels« der »Guru« eintreten. An dem, was er dem Schüler zu bieten vermag, muß dieser die Wirklichkeit der neuen Welt empfinden. Man kann daraus ermessen, wie groß das Vertrauen in den Guru sein muß in jeder Geheimschulung, welche dieses Namens wirklich wert ist. Sobald man an den Guru nicht mehr glauben kann, ist es ja in dieser höheren Welt so, wie wenn einem in der physischen plötzlich alles genommen würde, worauf man den Glauben an die Wirklichkeit seiner Wahrnehmungen gebaut hat.
Außer dieser einen Tatsache gibt es nun noch eine andere, durch welche der Mensch in Verwirrung gesetzt werden könnte, wenn er sich ohne die Führung eines Guru in die imaginative Welt begeben wollte. Es lernt nämlich der Geheimschüler von allen geistigen Wesenheiten in erster Linie sich selbst kennen. In dem physischen Leben hat der Mensch Gefühle, Begierden, Wünsche, Leidenschaften, Vorstellungen usw. Zwar werden diese alle von den Dingen und Wesenheiten der äußeren Welt veranlaßt, aber der Mensch weiß ganz genau, daß sie seine innere Welt bilden, und er unterscheidet sie als das, was in seiner Seele vorgeht von den Gegenständen der Außenwelt. Sobald aber der imaginative Sinn erweckt ist, hört diese Leichtigkeit des Unterscheidens ganz auf. Seine eigenen Gefühle, Vorstellungen, Leidenschaften usw. treten buchstäblich aus ihm heraus, nehmen Gestalt, Farbe und Ton an. Er steht ihnen jetzt so gegenüber, wie in der physischen Welt ganz fremden Gegenständen und Wesenheiten. Und daß die Verwirrung eine vollständige werden kann, wird man begreifen, wenn man sich an das erinnert, was in Heft 23 dieser Zeitschrift gesagt worden ist. Dort ist ja nichts anderes geschildert als die Art, wie die imaginative Welt für den Beobachter auftritt. Es erscheint nämlich in ihr alles umgekehrt wie im Spiegelbilde. Was vom Menschen ausströmt, erscheint so, als wenn es von außen an ihn herankommen wollte. Ein Wunsch, den er hegt, verwandelt sich in eine Gestalt, beispielsweise in die Form eines phantastisch aussehenden Tieres, oder auch wohl eines menschenähnlichen Wesens. Dieses scheint ihn zu bestürmen, einen Angriff auf ihn auszuführen, oder ihn auch zu veranlassen, dieses oder jenes zu tun. So kann es kommen, daß der Mensch sich vorkommt, als umgeben und umflattert von einer ganz phantastischen, oft reizvollen und verführerischen, oft auch grausigen Welt. In Wahrheit stellt diese nichts anderes vor als seine eigenen Gedanken, Wünsche und Leidenschaften, welche in Bilder verwandelt sind. – Man würde sich einem großen Irrtum hingeben, wenn man glauben wollte, daß die Unterscheidung dieses in Bildern verwandelten Selbstes von der wirklichen geistigen Welt leicht sei. Zunächst |254 ist es für den Schüler geradezu unmöglich, diese Unterscheidung wirklich zu vollziehen. Denn es kann genau dasselbe Bild ebensogut von einem geistigen Wesen herrühren, welches zu den Menschen spricht, wie von irgend etwas im Innern der Seele. Und übereilt der Mensch gerade dabei etwas, so setzt er sich der Gefahr aus, daß er die beiden Dinge nie ordentlich voneinander zu trennen lernt. Die größte Vorsicht ist dabei geboten. – Nur noch größer wird die Verwirrung dadurch, daß die eigenen Wünsche und Begierden der Seele sich in Bilder kleiden, die genau den entgegengesetzten Charakter von dem tragen, was sie wirklich sind. Man nehme z. B. an, die Eitelkeit kleide sich auf diese Art in ein Bild. Sie kann auftreten als eine liebreizende Gestalt, welche die wunderbarsten Dinge verspricht, wenn man ausführt, was sie angibt. Diese ihre Angaben scheinen etwas durchaus Gutes, Erstrebenswertes in Aussicht zu stellen; folgt man ihnen, so stürzt man sich in sein moralisches oder sonstiges Verderben. Umgekehrt kann sich eine gute Eigenschaft der Seele in ein unsympathisches Kleid hüllen. Nur dem wirklichen Kenner ist es möglich, da zu unterscheiden und nur eine Persönlichkeit, die gar nicht wankend gemacht werden kann in bezug auf ein richtiges Ziel, ist sicher gegenüber den Verführungskünsten der eigenen Seelenbilder. – Man wird in Anbetracht von alledem zugeben, wie notwendig die Führung eines Guru ist, der mit sicherem Sinn den Schüler aufmerksam macht, was auf diesem Gebiet Trugbild und was Wahrheit ist. Nicht zu glauben aber braucht man, daß dieser Guru immer hinter dem Schüler stehen muß. Das räumliche Beisammensein mit dem Lehrer ist es durchaus nicht, worauf es beim Geheimschüler immer ankommt. Gewiß gibt es Augenblicke, wo ein solches räumliches Beisammensein wünschenswert, und auch solche, wo es durchaus notwendig ist. Aber anderseits findet der Geheimlehrer auch die Mittel, um mit dem Schüler in Verbindung zu bleiben, auch bei räumlicher Entfernung. Und zudem kommt in Betracht, daß manches, was zwischen Lehrer und Schüler auf diesem Gebiete bei einem Beisammensein vorgeht, oftmals monate-, vielleicht jahrelang nachwirken kann. Eines aber gibt es, was sicher den notwendigen Zusammenhang zwischen Lehrer und Schüler zerreißen muß. Das tritt dann ein, wenn der letztere das Vertrauen zu dem ersteren verliert. – Und besonders schlimm ist es, wenn dieses Vertrauensband sich löst, ehe der Schüler unterscheiden gelernt hat die Vorspiegelungen der eigenen Seele von der wahren Wirklichkeit.
Nun könnte man vielleicht sagen: ja, wenn auf diese Art ein solches Gebundensein an den Guru eintritt, so verliert ja der Geheimschüler alle Freiheit und Selbständigkeit. Er gibt sich sozusagen dem Lehrer ganz in die Hand. Doch gerade dies ist in Wahrheit gar nicht der Fall. Allerdings gibt es Unterschiede in bezug auf die Abhängigkeit vom Guru in den verschiedenen Methoden der okkulten Schulung. Diese Abhängigkeit kann eine größere oder geringere sein müssen. Sie ist die verhältnismäßig größte bei derjenigen Methode, welche von den Okkultisten des Orients befolgt wurde und von diesen auch heute noch als die ihrige gelehrt wird. In viel geringerem Maße ist diese Abhängigkeit von einem Menschen schon bei der sogenannten christlichen Einweihung vorhanden. Und eigentlich völlig in Wegfall kommt sie bei demjenigen Erkenntnispfade, der seit dem vierzehnten Jahrhunderte von den sogenannten Geheimschulen der Rosenkreuzer angegeben wird. Bei diesem kann zwar nicht der Guru wegfallen, denn das ist unmöglich. Aber es hört wahrhaft jede Abhängigkeit von ihm auf. Wie das möglich ist, wird aus der demnächst in dieser Zeitschrift erscheinenden Fortsetzung dieses Aufsatzes zu ersehen sein. Darinnen wird nämlich genau geschildert werden, wodurch sich diese drei |255 »Erkenntnispfade« unterscheiden: der orientalische, der christliche und der rosenkreuzerische. Bei dem letzteren kommt nämlich gar nichts in Betracht, was einen modernen Menschen irgendwie in seinem Freiheitsgefühl stören könnte. Auch wird in dieser Fortsetzung geschildert werden, wie die eine oder die andere Person als Geheimschüler dazu kommen kann, auch gegenwärtig, im modernen Europa, nicht den rosenkreuzerischen Weg zu gehen, sondern den orientalischen oder den älteren christlichen, obgleich der rosenkreuzerische gegenwärtig der natürlichste ist. Dieser ist, wie man im weiteren Verlaufe sehen wird, nicht etwa unchristlich. Es kann ihn ein Mensch gehen, ohne sein Christentum zu gefährden, und es kann ihn auch ein Mensch gehen, der auf der vollen Höhe moderner wissenschaftlicher Weltanschauung zu stehen vermeint.
Ein anderes könnte aber vielleicht noch der Erklärung bedürfen. Man könnte sich versucht fühlen, zu fragen, ob denn nicht dem Geheimschüler erspart bleiben könnte, durch die Vorspiegelungen seiner eigenen Seele hindurchzugehen. Geschähe das, so würde er eben nie zu der für ihn so wünschenswerten selbständigen Unterscheidung kommen. Denn durch nichts kann die ganz eigenartige Natur der imaginativen Welt anschaulicher werden als durch die Betrachtung der eigenen Seele. Der Mensch kennt ja das Innenleben seiner Seele zunächst von der einen Seite. Er steckt eben darinnen. Und das muß ja der Geheimschüler gerade lernen: die Dinge nicht nur von außen anzuschauen, sondern sie so zu beobachten, als ob er in ihnen allen darinnen steckte. Tritt ihm nun seine eigene Gedankenwelt so wie etwas Fremdes entgegen, dann lernt er eben dadurch ein Ding, das er schon von einer Seite her kennt, auch noch von der anderen Seite kennen. Er muß gewissermaßen sich selbst das erste Beispiel einer solchen Erkenntnis werden. Von der physischen Welt her ist er ja an etwas ganz anderes gewöhnt. Da erblickt er alle anderen Dinge immer nur von außen, sich selbst aber erlebt er nur vom Innern. Er kann, solange er in der physischen Welt verbleibt, nie hinter die Oberfläche der Dinge hineinsehen. Und er kann niemals aus sich herausgehen, gleichsam »aus seiner eigenen Haut fahren«, um sich von außen zu beobachten. Das letztere obliegt ihm buchstäblich bei der Geheimschulung zuerst, und mit Hilfe dessen lernt er dann, auch äußeren Tatsachen und Wesenheiten hinter die Oberfläche zu schauen.
(Wird fortgesetzt.) |