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Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:

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PdE   PdS   HdS   DSE   WS   SW   GF   GK   VM  VS  GG  KS   AD   DS   SL   AL   EH   ML

Die Stufen der

höheren Erkenntnis

Die Stufen der höheren Erkenntnis.

(Die Inspiration.)

 

Eine Zwischenbetrachtung zu

»Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten?«

 

Von Dr. Rudolf Steiner.

(Fortsetzung aus Heft 32.)

SE, 273-280

 

Aus der Schilderung der Imagination ist ersichtlich geworden, wie durch sie der Geheimschüler den Boden der äußeren sinnlichen Erlebnisse verläßt. In einem noch viel höheren Grade ist dieses der Fall in der Inspiration. Bei ihr liegt dem Vorstellen noch viel weniger von dem zugrunde, was man als eine äußere Anregung bezeichnen kann. Der Mensch muß da in sich selbst die Kraft finden, welche es ihm möglich macht, |274 über etwas sich Vorstellungen zu bilden. Er muß in einem viel höheren Grade innerlich tätig sein, als dies bei der äußeren Erkenntnis der Fall ist. Bei dieser gibt er sich eben den äußeren Eindrücken hin, und sie verursachen ihm die Vorstellungen. Diese Hingabe fällt bei der Inspiration weg. Es liefern nunmehr keine Augen Farben, keine Ohren Töne usw. Aller Inhalt des Vorstellens muß gewissermaßen durch eigene Tätigkeit, also durch rein geistig-seelische Vorgänge geschaffen werden. Und in dasjenige, was so der Mensch durch die Tätigkeit seines Innern schafft, muß sich die Offenbarung der höheren wirklichen Welt hineinprägen. Ein eigenartiger Widerspruch scheint in einer solchen Beschreibung der höheren Erkenntniswelt aufzutreten. Der Mensch soll in einer gewissen Art der Schöpfer seiner Vorstellungen sein; und doch dürfen diese Vorstellungen selbstverständlich nicht seine Geschöpfe sein; sondern durch sie müssen sich die Vorgänge der höheren Welt ebenso zum Ausdrucke bringen, wie sich in den Wahrnehmungen der Augen, Ohren usw. die Vorgänge der niederen Welt zum Ausdrucke bringen. Es ist das aber ein Widerspruch, der sich in der Schilderung dieser Erkenntnisart finden muß. Denn das ist es gerade, was sich der Geheimschüler auf dem Wege zur Inspiration aneignen muß, daß er auf dem Wege seiner inneren Tätigkeit etwas zustande bringt, wozu er in dem gewöhnlichen Leben von außen gezwungen wird. – Warum verlaufen im gewöhnlichen Leben die Vorstellungen nicht willkürlich? Weil der Mensch sich bei seinem Vorstellen nach den äußeren Gegenständen richten muß. Alle Willkür des »Ich« fällt weg, weil die Gegenstände sagen: so oder so sind wir. Da sprechen die Gegenstände, wie sie vorgestellt werden sollen, das »Ich« hat nichts darüber zu bestimmen. Wer sich den Gegenständen nicht fügen will, der stellt sich eben Unrichtiges vor; und er würde bald gewahr werden, wie wenig er damit in der Welt zurechtkäme. Man kann dieses notwendige Verhalten des Menschen zu den Dingen der Außenwelt in der Erkenntnis mit dem Ausdruck »selbstlos« bezeichnen. Der Mensch muß sich »selbstlos« zu den Dingen verhalten. Und die Außenwelt ist sein Lehrmeister in dieser Selbstlosigkeit. Sie benimmt ihm alle Illusionen, alle Phantastereien, alle unlogischen Urteile, alles Unsachliche, indem sie ihm einfach ihr richtiges Bild vor die Sinne stellt.

Will der Mensch sich für die Inspiration vorbereiten, so muß er sein Inneres so weit bringen, daß ihm diese Selbstlosigkeit eigen ist, auch wenn nichts von außen dazu zwingt. Er muß innerlich schaffen lernen, jedoch so, daß sein »Ich« bei diesem Schaffen nicht im geringsten eine eigenmächtige Rolle spielt. Die Schwierigkeiten, welche in Betracht kommen, um eine solche Selbstlosigkeit zu erringen, werden um so deutlicher sichtbar, je besser man berücksichtigt, welche Seelenkräfte für die Inspiration besonders in Betracht kommen. – Man unterscheidet die drei Grundkräfte des seelischen Lebens: Vorstellen, Fühlen und Wollen. Bei dem gewöhnlichen Sinneserkennen sind die Vorstellungen durch die äußeren Gegenstände angeregt. Und durch diese von außen angeregten Vorstellungen bekommen auch das Fühlen und das Wollen ihre bestimmten Richtungen. Der Mensch sieht z. B. einen Gegenstand; dieser bereitet ihm Lust, infolgedessen begehrt er die betreffende Sache. Die Lust sitzt im Gefühle; durch dieses wird der Wille erregt, wie es selbst sein Gepräge von dem Vorstellen erhalten hat. Der letzte Grund aber von Vorstellen, Fühlen und Wollen ist der äußere Gegenstand. Ein anderer Fall wäre dieser. Ein Mensch erlebt ein Ereignis. Dieses bereitet ihm Angst. Er läuft von dem Schauplatze des Ereignisses hinweg. Auch hier sind die äußeren Vorgänge der erste Grund; sie kommen durch die Sinne zur Wahrnehmung, werden Vorstellungen, das Gefühl der Angst stellt sich ein; und der Wille – der sich im |275 Davonlaufen verwirklicht – ist die Folge. Bei der Inspiration fällt ein äußerer Gegenstand in dieser Form weg. Die Sinne kommen für eine Wahrnehmung nicht in Betracht. Sie also können auch nicht die Anreger von Vorstellungen sein. Von dieser Seite aus wird auf Fühlen und Wollen kein Einfluß ausgeübt. – Nun sind es aber gerade diese beiden, aus denen, wie aus einem Mutterboden, bei der Inspiration innerlich die Vorstellungen aufsteigen, gleichsam herauswachsen. Und es werden wahre Vorstellungen erwachsen, wenn der Mutterboden ein gesunder ist, Irrtümer und Wahngebilde, wenn er ein ungesunder ist.

So gewiß als die Inspirationen, welche aus einem gesunden Fühlen und Wollen entspringen, Offenbarungen einer höheren Welt sein können; so gewiß entspringen aus einem wüsten Fühlen und Wollen die Irrtümer, Täuschungen und Phantastereien über eine höhere Welt.

Die Geheimschulung stellt sich deshalb die Aufgabe, dem Menschen die Mittel zu zeigen, welche ihn befähigen, seine Gefühle und seine Willensimpulse zu gesund-fruchtbaren für die Inspiration zu machen. Wie in allen Dingen der Geheimschulung hat man es auch hier mit einer intimen Regelung und Gestaltung des Seelenlebens zu tun. Man muß sich zunächst gewisse Gefühle aneignen, die man im gewöhnlichen Leben nur in einem geringen Grade kennt. Es sollen hier einige von diesen Gefühlen angedeutet werden. Zu den wichtigsten gehört eine höhere Empfindlichkeit gegenüber von »Wahr« und »Unwahr«, von »Richtig« und »Unrichtig«. Gewiß hat ja auch der gewöhnliche Mensch ähnliche Gefühle. Sie müssen aber eben bei dem Geheimschüler in einem viel höheren Maße ausgebildet werden. Man nehme an, jemand begehe einen logischen Fehler: ein anderer sieht diesen Fehler ein, und er stellt die Sache richtig. Man mache sich klar, wie groß der Anteil des Urteiles, des Verstandes bei einem solchen Richtigstellen ist, und wie gering das Gefühl der Lust beim Richtigen, der Unlust beim Unrichtigen. Wohl gemerkt, es soll durchaus nicht behauptet werden, daß die Lust und entsprechend die Unlust gar nicht vorhanden seien. Aber der Grad, in dem sie im gewöhnlichen Leben vorhanden sind, muß sich in der Geheimschulung ins Unbegrenzte steigern. Ganz systematisch muß der Geheimschüler die Aufmerksamkeit auf sein Seelenleben lenken: und er muß es dahin bringen, daß ihm das logisch Unrichtige eine Quelle des Schmerzes wird, der durchaus nicht hinter einem physischen Schmerze zurückbleibt; und in umgekehrter Art muß ihm das »Richtige« wirkliche Freude oder Lust bereiten. Wo also ein anderer nur seinen Verstand, seine Urteilskraft in Bewegung bringt, muß der Geheimschüler lernen, die ganze Stufenfolge von Gefühlen, vom Schmerz bis zum Enthusiasmus, von der wehevollen Spannung bis zur entzückenden Lösung im Besitz der Wahrheit zu durchleben. Ja, er muß etwas wie Haß empfinden lernen gegen dasjenige, was beim »normalen« Menschen nur als ein nüchtern-kaltes »Unrichtiges« erlebt wird; er muß eine Liebe zur Wahrheit in sich entwickeln, welche einen ganz persönlichen Charakter trägt; so persönlich, so warm wie der Liebende der Geliebten gegenüber empfindet. – Man wird ja gewiß auch in den Kreisen unserer »Gebildeten« vielfach von der »Liebe zur Wahrheit« reden; doch ist das, was man da meint, eben gar nicht zu vergleichen mit dem, was der Geheimschüler in stiller, innerer Seelenarbeit nach dieser Richtung durchmachen muß. Er muß sich geduldig immer wieder probeweise dieses oder jenes »Wahre«, dieses oder jenes »Falsche« vorlegen; und sich der Sache hingeben, um nicht bloß seine Urteilskraft zu schulen, die nüchtern unterscheidet zwischen »wahr« und »falsch«; sondern er muß zu dem allen ein ganz persönliches Verhältnis gewinnen. – Es ist durchaus richtig, daß der Mensch im Anfange einer solchen Schulung in das verfallen |276 kann, was man »Ueberempfindlichkeit« nennen mag. Ein unrichtiges Urteil, das er in seiner Umgebung hört, eine Inkonsequenz usw. können ihm einen schier unerträglichen Schmerz bereiten. – Es muß deshalb bei der Schulung auf diese Sache Rücksicht genommen werden. Denn geschähe das nicht: dann könnten sich allerdings große Gefahren für das Seelengleichgewicht des Schülers ergeben. Wird darauf gesehen, daß der Charakter fest bleibt, dann können Stürme im Seelenleben sich abspielen, und der Mensch hat doch die Kraft, in harmonischer Miene und Geberde mit der Außenwelt zu leben. Ein Fehler ist in jedem Falle gemacht, wo der Geheimschüler zu einem Gegensatze gegenüber der Außenwelt gebracht wird, so daß er diese unerträglich findet, oder gar aus ihr fliehen will Die höhere Gefühlswelt darf sich nicht auf Kosten des gleichmäßigen Wirkens und Arbeitens in der Außenwelt entwickeln; deshalb muß der inneren Erhöhung des Gefühlslebens eine Stärkung der Widerstandskraft gegenüber den äußeren Eindrücken entsprechen. Die praktische Geheimschulung weist daher den Menschen an, niemals die obengenannten Uebungen zur Schulung seiner Gefühlswelt zu unternehmen, ohne sich zugleich auch nach der Richtung zu entwickeln, daß er ein Verständnis dafür gewinnen könne, was das Leben an Toleranzempfindung von dem Menschen fordert. Er muß zugleich in sich den lebendigsten Schmerz empfinden können, wenn z. B. ein Mensch ein unrichtiges Urteil abgibt, und vollkommen tolerant sein können gegen diesen Menschen, weil der Gedanke in der Seele ebenso lebhaft da ist: dieser Mensch muß so urteilen, und es ist mit seinem Urteile wie mit einer Tatsache zu rechnen. – Richtig ist allerdings, daß das Innere des Geheimwissenschafters sich immer mehr und mehr zu einem Doppelleben umgestalten wird. Immer reichere Vorgänge werden sich in seiner Seele abspielen bei seiner Pilgerschaft durch das Leben, immer selbständiger gegenüber dem, was die äußere Welt gibt, wird eine zweite Welt. Aber dieses Doppelleben wird gerade das Fruchtbare sein für die echte Lebenspraxis. Was sich dadurch einstellt, ist Schlagfertigkeit des Urteiles, Treffsicherheit in bezug auf die Entschlüsse. Wo derjenige, der einer solchen Schulung ferne steht, lange Gedankenketten durchmachen muß, zwischen Entschluß und Ratlosigkeit hin- und hergetrieben wird, da wird der Geheimwissenschafter rasch die Lagen des Lebens überschauen, dem gewöhnlichen Blicke verborgene Zusammenhänge schnell aufdecken usw. Es gehört für ihn dann oft sogar viel Geduld dazu, sich in die langsame Art hinein zu begeben, wie ein anderer etwas begreifen kann, während bei ihm doch dieses Begreifen pfeilschnell vor sich geht.

Nun ist bisher nur gesprochen von den Eigenschaften, welche das Gefühlsleben erhalten muß, damit die Inspiration in der richtigen Art eintreten könne. Die andere Frage ist die, wie werden die Gefühle fruchtbar, so daß sie aus sich wirkliche, der Inspirationswelt angehörige Vorstellungen gebären? Will man das einsehen, was die Geheimwissenschaft als Antwort auf diese Frage zu geben hat, so muß man sich mit der Tatsache bekannt machen, daß des Menschen Seelenleben immer einen gewissen Schatz von Gefühlen hat, welche über das Maß dessen hinausgehen, was durch die sinnlichen Wahrnehmungen angeregt wird. Der Mensch fühlt gleichsam mehr, als das ist, wozu ihn die Dinge zwingen. Nur wird in dem gewöhnlichen Leben dieses Uebermaß in einer solchen Richtung angewendet, welche durch die Geheimschulung in eine andere verwandelt werden muß. Man nehme z. B. ein Angst- oder Furchtgefühl. Man wird sich leicht klar machen können, daß in vielen Fällen die Furcht oder die Angst größer ist, als sie sein würde, wenn sie einem entsprechenden äußeren Vorgange ganz angemessen wäre. Man stelle sich nun vor: der Geheimschüler arbeite energisch an sich, um in keinem ihm |277 vorkommenden Falle größere Furcht oder Angst zu haben, als gegenüber den entsprechenden äußeren Vorgängen wirklich gerechtfertigt ist. Nun wird ein gewisses Maß von Furcht oder Angst immer aus der Aufwendung von Seelenkraft erzeugt. Diese Seelenkraft geht tatsächlich dadurch verloren, daß eben Furcht oder Angst erzeugt werden. Der Geheimschüler erspart diese Seelenkraft wirklich, wenn er sich die Furcht oder die Angst – und anderes – versagt. Und sie bleibt ihm für etwas anderes verfügbar. Wiederholt er solche Vorgänge oft, so wird aus den fortlaufend ersparten Seelenkräften ein innerer Schatz gebildet, und der Geheimschüler wird bald erleben, daß ihm aus solchen Gefühlsersparnissen die Keime zu Vorstellungen erwachsen, welche Offenbarungen des höheren Lebens zum Ausdrucke bringen. Dergleichen kann man im gewöhnlichen Sinne nicht »beweisen«; man kann nur dem Geheimschüler die Anweisung geben: tue dies oder jenes – und er wird, wenn er die Sache ausführt, schon sehen, daß sich die untrüglichen Früchte einstellen.

Einer ungenauen Betrachtung des soeben Geschilderten könnte es leicht als ein Widerspruch erscheinen, daß auf der einen Seite eine Bereicherung der Gefühlswelt gefordert wird, indem durch das, was sonst nur das Verstandesurteil wachruft, Gefühle der Lust, des Schmerzes usw. erregt werden sollen – und auf der anderen Seite gerade von Ersparnissen an Gefühlen gesprochen wird. Dieser Widerspruch verschwindet sofort, wenn man bedenkt, daß die Ersparnisse bei denjenigen Gefühlen gemacht werden sollen, welche durch die äußeren Sinne angeregt werden. Eben das, was da erspart wird, erscheint als Bereicherung gegenüber den geistigen Erlebnissen. Und es ist durchaus richtig, daß auf diese Art an der sinnlichen Wahrnehmungswelt ersparte Gefühle nicht nur auf dem anderen Gebiete frei werden, sondern daß sie sich auf diesem Gebiete als schöpferisch erweisen. – Sie schaffen das Material zu den Vorstellungen, in denen sich die geistige Welt offenbart.

Es würde allerdings nicht besonders weit gehen, wenn man nur bei solchen Ersparnissen stehen bleiben wollte, wie sie oben angedeutet worden sind. Zu größeren Erfolgen ist noch mehr nötig. Man muß der Seele einen noch weit größeren Schatz von Gefühl-erzeugender Kraft zuführen als auf diesem Wege möglich ist. Man muß z. B. sich gewissen äußeren Eindrücken probeweise aussetzen und sich dann die Gefühle ganz versagen, die im sogenannten »normalen« Zustande eintreten. Man muß sich z. B. einem Ereignisse gegenüberstellen, welches »normalerweise« die Seele erregt, und sich diese Erregung ganz und gar verbieten. Man kann das so machen, daß man sich tatsächlich einem solchen Ereignisse gegenüberstellt oder sich bloß mit der Vorstellung behilft. Das letztere ist sogar für die fruchtbare Geheimschulung das bessere. Da der Schüler ja in die Imagination eingeweiht wird, entweder vor seiner Vorbereitung zur Inspiration oder mit der letzteren gleichzeitig, so muß er eigentlich imstande sein, sich imaginativ ein Ereignis mit derselben Kraft vor die Seele zu stellen, wie wenn es wirklich da wäre. – Wenn nun in langer innerer Arbeit der Schüler sich immer wieder und wieder Dingen und Vorgängen aussetzt, und es sich verbietet, entsprechende »normale« Gefühle zu haben, so wird in seiner Seele der Mutterboden für die Inspiration geschaffen. – Nur als Zwischenbemerkung sei hier angeführt, daß derjenige, welcher eine solche Schulung zur Inspiration beschreibt, es voll würdigen kann, wenn vom Standpunkte unserer gegenwärtigen Zeitbildung aus manches gegen eine solche Beschreibung eingewendet wird. Und man kann da nicht nur das oder jenes einwenden, sogar kann man überlegen lächeln und sagen: »Inspiration kann doch nicht pedantisch anerzogen werden; sie ist eine Naturgabe des Genies.« Ja gewiß, vom Standpunkte |278 dieser Zeitbildung mag es recht komisch anmuten, wenn viel über die Heranbildung dessen geredet wird, bei dem diese Bildung von einer Erklärung nichts wissen will; aber diese Zeitbildung ist sich nicht bewußt, wie wenig sie ihre eigenen Gedankengänge zu Ende zu denken vermag. Wer es einem Bekenner dieser Zeitbildung zumuten wollte, daß er daran glauben solle, irgendein höher entwickeltes Tier habe sich nicht langsam entwickelt, sondern sei »plötzlich« dagewesen: der würde bald hören, daß der im modernen Sinne Gebildete an ein solches »Wunder« nicht glaube. So etwas sei »Aberglauben«. Nun, auf dem Gebiete des Seelenlebens ist aber ein solcher modern Gebildeter, ganz im Stile seiner eigenen Ansichten, ein von krassem Aberglauben Befallener. Er will nämlich nicht daran denken, daß sich eine vollkommenere Seele auch entwickelt haben muß, daß sie nicht plötzlich als eine Naturgabe da sein könne. Aeußerlich erscheint allerdings manches Genie, wie »aus dem Nichts« geboren, auf unerklärliche Weise da; doch erscheint es eben so nur für den materialistischen Aberglauben; der Geisteswissenschafter weiß, daß eine genialische Veranlagung, die in einem Leben bei einem Menschen wie aus dem Nichts heraus geboren ist, einfach die Folge von dessen Erziehung zur Inspiration in einem früheren Erdenleben ist. – Auf theoretischem Gebiete ist der materialistische Aberglaube schlimm; bei weitem schlimmer aber ist er noch auf einem solchen praktischen Gebiete wie hier. Da er annimmt, daß die Genies in alle Zukunft »vom Himmel fallen« müssen, kümmert er sich nicht um derlei »okkultistischen Unfug« oder solch »phantastische Mystik«, die von Vorbereitung zur Inspiration sprechen. Dadurch hält aber der Aberglaube der Materialisten den wahren Fortschritt der Menschheit auf. Er sorgt nicht dafür, daß die in den Menschen schlummernden Fähigkeiten entwickelt werden.

 In Wirklichkeit sind nämlich oft diejenigen, welche sich Fortschrittler und Freidenker nennen, solche, welche die Feinde der wahren Fortentwickelung sind. Doch dies soll – wie gesagt – nur eine Zwischenbemerkung sein, die notwendig ist mit Rücksicht auf das Verhältnis der Geheimwissenschaft zur gegenwärtigen Zeitbildung.

Nun würden die Seelenkräfte, welche durch das gekennzeichnete Sich-Versagen der »normalen« Gefühle als Schatz im Innern des Schülers sich aufspeichern, gewiß, auch ohne daß etwas anderes zu Hilfe käme, sich in Inspirationen umsetzen. Und der Geheimschüler würde erleben, wie in seiner Seele wahre Vorstellungen aufsteigen, welche Erlebnisse in höheren Welten darstellen. Mit den einfachsten Erfahrungen übersinnlicher Vorgänge würde die Sache beginnen, und langsam käme Komplizierteres und Höheres zum Vorschein, wenn der Schüler in der angedeuteten Richtung innerlich weiterlebte. – In Wirklichkeit wäre aber eine solche Geheimschulung heute ganz unpraktisch und sie wird daher wohl nirgends durchgeführt, wo man ernsthaft zu Werke geht. Wollte nämlich der Schüler auf diese Art alles »aus sich selbst heraus« entwickeln, was die Inspiration geben kann: er würde ganz sicher dazu kommen, alles so aus sich »herauszuspinnen«, was je z. B. auch in dieser Zeitschrift über das Wesen des Menschen, über des Menschen Leben nach dem Tode, über die Entwickelung des Menschengeschlechts und der Planeten usw. gesagt worden ist. Aber ein solcher Schüler würde eben unermesslich lange Zeiträume dazu brauchen. Es wäre so, wie wenn z. B. jemand die ganze Geometrie aus sich selbst heraus spinnen wollte, ohne Rücksicht darauf, was Menschen vor ihm auf diesem Gebiete schon gearbeitet haben. Gewiß, »in der Theorie« ist so etwas durchaus möglich. In der Praxis es auszuführen, wäre Torheit. Auch in der Geheimwissenschaft verfährt man nicht so, sondern man läßt sich durch einen Lehrer diejenigen Dinge überliefern, welche durch inspirierte Vorgänger |279 für die Menschheit errungen worden sind. Diese Ueberlieferung muß gegenwärtig die Grundlage abgeben für die eigene Inspiration. Dasjenige, was in der einschlägigen Literatur und in Vorträgen usw. heute aus dem Gebiet der Geheimwissenschaft geboten wird, das kann durchaus eine solche Inspirationsgrundlage abgeben. Es sind z. B. die Lehren über die verschiedenen Grundteile des Menschen (physischer Leib, Aetherleib, Astralleib usw.), die Erkenntnisse über das Leben nach dem Tode bis zu einer neuen Verkörperung, dann z. B. alles, was in dieser Zeitschrift unter dem Titel »Aus der Akasha-Chronik« gedruckt wurde. Man muß nämlich gegenüber der Inspiration durchaus festhalten, daß man sie braucht zum Auffinden und Selbsterleben der höheren Wahrheiten, nicht aber zum Verstehen derselben. Man kann ohne Inspiration das nicht zuerst auffinden, was unter dem Titel »Aus der Akasha-Chronik« mitgeteilt ist. Empfängt man es aber durch Mitteilung, dann kann man es einsehen durch das ganz gewöhnliche logische Urteil. Niemand sollte behaupten: es würden da Dinge behauptet, die man ohne Inspiration nicht logisch begreifen könne. Man findet sie nicht deshalb unbegreiflich, weil man nicht inspiriert ist, sondern nur weil man nicht genügend nachdenken will. – Erhält man also solche Wahrheiten mitgeteilt, dann erregen sie in der Seele durch ihre eigene Kraft die Inspiration. Man muß nur versuchen, wenn man solcher Inspiration teilhaftig werden will, diese Erkenntnisse nicht nüchtern und verstandesmäßig zu empfangen, sondern sich von dem Hochschwung der Ideen in alle nur möglichen Gefühlserlebnisse versetzen lassen. Und wie sollte man dies nicht können! Kann das Gefühl stumpf bleiben, wenn man die überwältigenden Vorgänge im Geiste vor sich vorüberziehen läßt, wie die Erde sich aus Mond, Sonne und Saturn entwickelt hat, oder wenn man die unendlichen Tiefen der Menschennatur durch eine Erkenntnis seines Aether-, Astralleibes usw. durchschaut? Man möchte fast sagen: schlimm genug für einen solchen, welcher in Nüchternheit solche Gedankengebäude erleben kann. Denn erlebte er sie nicht in Nüchternheit, sondern durchlebte er alle durch sie möglichen Gefühlsspannungen und Gefühlslösungen, alle Steigerungen und Krisen, alle Fortschritte und Rückschritte, alle Katastrophen und Verkündigungen: dann eben würde in ihm der Mutterboden zur Inspiration selbst zubereitet. Allerdings wird man das notwendige Leben in Gefühlen gegenüber solchen Mitteilungen aus einer höheren Welt nur wirklich entfalten können, wenn man Uebungen solcher Art, wie sie oben angedeutet sind, macht. Wer alle seine Gefühlskräfte an die äußere sinnliche Wahrnehmungswelt wendet, dem werden die Erzählungen aus einer höheren Welt als »trockene Begriffe«, als »graue Theorie« erscheinen. Er wird niemals begreifen können, warum es dem andern warm ums Herz wird, wenn er die Mitteilungen der Geheimwissenschaft vernimmt, während er doch »kühl bis ans Herz hinan« bleibt. Er wird sogar sagen: »Das ist doch alles nur für den Verstand, das ist intellektuell; ich möchte etwas für das Gemüt.« Er sagt sich aber nicht, daß es an ihm liegt, daß sein Herz kalt bleibt.

Viele unterschätzen noch immer die Gewalt dessen, was in diesen Mitteilungen aus einer höheren Welt allein schon verborgen liegt. Und im Zusammenhange damit überschätzen sie allerlei andere Uebungen und Prozeduren. Ja, was nützt es mir, sagen sie, wenn mir andere erzählen, wie es in höheren Welten aussieht: ich möchte doch selbst da hineinschauen. Solchen fehlt nur zumeist die Geduld, sich immer wieder und wieder in solche Erzählungen aus höheren Welten zu vertiefen. Täten sie es, dann würden sie sehen, welche Zündekraft diese »bloßen Erzählungen« haben, und wie wirklich die eigene Inspiration angeregt wird, wenn man die Inspirationen anderer mitgeteilt erhält. – Gewiß, es müssen zum »Lernen« andere Uebungen hinzukommen, wenn |280 der Schüler rasche Fortschritte in dem Erleben der höheren Welten machen will; es sollte aber niemand die unbegrenzt große Bedeutung gerade des »Lernens« unterschätzen. Und jedenfalls kann niemandem Hoffnung gegeben werden, daß er durch irgendwelche Uebungen rasche Eroberungen in den höheren Welten machen werde, der es nicht zugleich über sich bringt: unablässig sich in die Mitteilungen zu vertiefen, die, rein erzählend, von den Vorgängen und Wesen der höheren Welten von berufener Seite gemacht werden. – Dadurch, daß gegenwärtig solche Mitteilungen in der Literatur und in Vorträgen usw. gemacht werden, und daß auch die ersten Andeutungen gegeben werden über die Uebungen, welche zur Erkenntnis höherer Welten führen (z. B. sind eben die Aufsätze dieser Zeitschrift »wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« solche erste Andeutungen), kann man jetzt einiges von dem erfahren, was ehedem nur in streng geschlossenen Geheimschulen mitgeteilt worden ist. Wie schon öfters in dieser Zeitschrift erwähnt worden ist, rührt eine solche Veröffentlichung von den Verhältnissen in unserer Zeit her und muß geschehen. Es muß aber immer wieder auch das andere betont werden, daß dadurch zwar Erleichterungen in bezug auf das Aneignen des Geheimwissens geschaffen sind, daß aber die sichere Führung durch den erfahrenen Geheimlehrer doch noch nicht völlig zu ersetzen ist.

Die Erkenntnis durch Inspiration führt den Menschen zum Erleben der Vorgänge in den unsichtbaren Welten, also z. B. der Entwickelung des Menschen, derjenigen der Erde und ihrer planetarischen Verkörperungen; kommen aber innerhalb dieser höheren Welten nicht bloß Vorgänge, sondern Wesen in Betracht, dann muß die Intuition als Erkenntnisart eintreten. Was durch solche Wesen geschieht, das erkennt man im Bilde durch die Imagination, den Gesetzen und Verhältnissen nach durch die Inspiration; will man den Wesen selbst gegenübertreten, dann braucht man die Intuition. – Wie sich die Inspiration hineingliedert in die Welt der Imaginationen, wie sie die letzteren durchdringt als eine »geistige Musik« und dadurch das Ausdrucksmittel der durch die Intuition zu erkennenden Wesen wird, davon soll dann in einem der nächsten Hefte gesprochen werden. Dann wird auch die Intuition selbst behandelt werden. Hier soll nur noch darauf hingewiesen werden, daß dasjenige, was man in der Geheimwissenschaft als »Intuition« bezeichnet, nichts zu tun hat mit dem, wofür man gegenwärtig oft im populären Sprachgebrauch das Wort »Intuition« anwendet. Man bezeichnet so einen mehr oder weniger unsicheren »Einfall« im Gegensatz zu einer klaren, folgerichtig gewonnenen Verstandes- oder Vernunfterkenntnis. In der Geheimwissenschaft ist die »Intuition« nichts Unklares und Unsicheres, sondern eine hohe Erkenntnisart, voll der lichtesten Klarheit und der unbezweifelbarsten Sicherheit.

(Wird fortgesetzt.)

   

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