Die Philosophie
Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:
Zweites Kapitel
ML, 18-31
[VI]
Den Ausschlag bei der Entscheidung, ob ich auf das Gymnasium oder die Realschule geschickt werden solle, gab bei meinem Vater seine Absicht, mir die rechte Vorbildung für eine »Anstellung« bei der Eisenbahn zu verschaffen. Seine Vorstellungen drängten sich zuletzt in die zusammen, ich sollte Eisenbahn-Ingenieur werden. Das führte zu der Wahl der Realschule.
Zunächst aber war die Frage zu entscheiden, ob ich beim Übergange von der Neudörfler Dorfschule zu einer der Schulen des benachbarten Wiener-Neustadt überhaupt für eine dieser Schularten schon reif sei. Ich wurde zunächst zur Aufnahmeprüfung in die Bürgerschule geführt.
An mir selbst gingen die Vorgänge, die nun für meine Lebenszukunft eingeleitet wurden, ohne tiefergehendes Interesse vor sich. Mir war in jenem Lebensalter die Art meiner »Anstellung«, mir war auch die Frage gleichgültig, ob Bürger- oder Realschule, oder Gymnasium. Ich hatte durch das, was ich um mich beobachtet, was ich in mir ersonnen hatte, unbestimmte, aber brennende Fragen über Leben und Welt in der Seele und wollte etwas lernen, um sie mir beantworten zu können. Mich kümmerte dabei wenig, durch welche Schulart das geschehen sollte.
Die Aufnahmeprüfung in die Bürgerschule bestand ich sehr gut. Man hatte alle die Zeichnungen mitgebracht, die ich bei meinem Hilfslehrer angefertigt hatte; und diese machten auf die Lehrerschaft, die mich prüfte, einen so starken Eindruck, dass wohl dadurch hinweggesehen wurde über meine mangelnden Kenntnisse. Ich kam mit einem »glänzenden« Zeugnisse davon. Es war helle Freude bei meinen Eltern, beim Hilfslehrer, beim Pfarrer, bei vielen Honoratioren von Neudörfl. Man war über meinen Erfolg froh, denn er war für Viele ein Beweis, dass die »Neudörfler Schule etwas leisten könne«.
Für meinen Vater entsprang aus alledem der Gedanke, dass ich nun, da ich so weit sei, gar nicht erst ein Jahr in |19 der Bürgerschule verbringen, sondern sogleich in die Realschule kommen solle. So wurde ich denn schon wenige Tage nachher zur Aufnahmeprüfung in diese geführt. Da ging es zwar nicht so gut als vorher; aber ich wurde doch zur Aufnahme zugelassen. Es war im Oktober 1872.
Nun musste ich täglich den Weg von Neudörfl nach Wiener-Neustadt machen. Morgens konnte ich mit dem Eisenbahnzuge fahren, abends musste ich zu Fuss zurückkehren, da ein Zug zur rechten Zeit nicht fuhr. Neudörfl lag in Ungarn, Wiener-Neustadt in Niederösterreich. Ich kam also täglich von »Transleithanien« nach »Cisleithanien«. (So nannte man offiziell das ungarische und das österreichische Gebiet.)
Während des Mittags blieb ich in Wiener-Neustadt. Es hatte sich eine Dame gefunden, die mich bei einem ihrer Aufenthalte auf dem Neudörfler Bahnhof kennen gelernt und dabei erfahren hatte, dass ich zur Schule nach Wiener-Neustadt kommen werde. Meine Eltern hatten ihr ihre Sorge darüber mitgeteilt, wie ich über den Mittag bei meinen Schulbesuchen hinwegkommen werde. Sie erklärte sich bereit, mich in ihrem Hause unentgeltlich essen zu lassen und mich jederzeit aufzunehmen, wenn ich es nötig hätte.
Der Fussweg von Wiener-Neustadt nach Neudörfl ist im Sommer sehr schön; im Winter war er oft beschwerlich. Ehe man von dem Stadtende zum Dorfe kam, musste man über einen Feldweg von einer halben Stunde gehen, der vom Schnee nicht gesäubert wurde. Da hatte ich oft durch Schnee zu »waten«, der bis an die Knie ging, und kam als »Schneemann« zu Hause an.
Das Stadtleben konnte ich in der Seele nicht in der gleichen Art mitmachen, wie das auf dem Lande. Ich stand verträumt dem gegenüber, was zwischen und in den aneinandergepferchten Häusern vorging. Nur vor den Buchhandlungen Wiener-Neustadts blieb ich oft lange stehen.
Auch was in der Schule vorgebracht wurde und was ich selbst da zu tun hatte, ging ohne ein lebhafteres Interesse an meiner Seele zunächst vorüber. Ich hatte in den beiden ersten Klassen viele Mühe, mitzukommen. Erst im zweiten Halbjahr der zweiten ging es besser. Da war ich erst ein »guter Schüler« geworden. |20
Ich hatte ein mich stark beherrschendes Bedürfnis. Ich sehnte mich nach Menschen, denen ich wie Vorbildern menschlich nachleben konnte. Solche fanden sich unter den Lehrern der beiden ersten Klassen nicht.
In dieses Erleben in der Schule trat nun wieder ein Ereignis, das tief in meine Seele hineinwirkte. Der Schuldirektor hatte in einem der Jahresberichte, die am Ende eines jeden Schuljahres ausgegeben wurden, einen Aufsatz erscheinen lassen: »Die Anziehungskraft betrachtet als eine Wirkung der Bewegung.« Ich konnte als elfjähriger Junge von dem Inhalte zunächst fast nichts verstehen. Denn es fing gleich mit höherer Mathematik an. Aber von einzelnen Sätzen erhaschte ich doch einen Sinn. Es bildete sich in mir eine Gedankenbrücke von den Lehren über das Weltgebäude, die ich von dem Pfarrer erhalten hatte, bis zu dem Inhalte dieses Aufsatzes. In diesem war auch auf ein Buch verwiesen, das der Direktor geschrieben hatte: »Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen.« Ich sparte so lange, bis ich mir das Buch kaufen konnte. Es wurde nun eine Art Ideal von mir, alles so schnell als möglich zu lernen, was mich zum Verständnis des Inhaltes von Aufsatz und Buch führen konnte.
Es handelte sich um folgendes. Der Schuldirektor hielt die von dem Stoffe aus in die Ferne wirkenden »Kräfte« für eine unberechtigte »mystische« Hypothese. Er wollte die »Anziehung« sowohl der Himmelskörper, wie auch der Moleküle und Atome ohne solche »Kräfte« erklären. Er sagte, zwischen zwei Körpern befinden sich viele in Bewegung begriffene kleinere Körper. Diese stossen, sich hin und her bewegend, auf die grösseren Körper. Ebenso werden diese an den Seiten überall gestossen, an denen sie von einander abgewandt sind. Die Stösse, die auf die abgewandten Seiten ausgeübt werden, sind zahlreicher als die in dem Raum zwischen den beiden Körpern. Dadurch nähern sich diese. Die »Anziehung« ist keine besondere Kraft, sondern nur eine »Wirkung der Bewegung«. Zwei Sätze fand ich ausgesprochen auf den ersten Seiten des Buches: »1. Es existiert ein Raum und in diesem eine Bewegung durch längere Zeit. 2. Raum und Zeit sind kontinuierliche homogene Grössen; die Materie aber besteht aus gesonderten Teilchen (Atomen).« Aus den Bewegungen, |21 die auf die beschriebene Art zwischen den kleinen und grossen Teilen der Materie entstehen, wollte der Verfasser alle physikalischen und chemischen Naturvorgänge erklären.
Ich hatte nichts in mir, was in irgendeiner Art dazu drängte, mich zu dieser Anschauung zu bekennen; aber ich hatte das Gefühl, es werde eine grosse Bedeutung für mich haben, wenn ich das auf diese Art Ausgesprochene verstehen werde. Und ich tat alles dazu, um dahin zu gelangen. Wo ich nur mathematische und physikalische Bücher auftreiben konnte, benützte ich die Gelegenheit. Es ging recht langsam. Ich setzte mit dem Lesen von Aufsatz und Buch immer wieder an; es ging jedesmal etwas besser.
Nun kam etwas anderes hinzu. In der dritten Klasse erhielt ich einen Lehrer, der wirklich das »Ideal« erfüllte, das vor meiner Seele stand. Ihm konnte ich nachstreben. Er unterrichtete Rechnen, Geometrie und Physik. Sein Unterricht war von einer ausserordentlichen Geordnetheit und Durchsichtigkeit. Er baute alles so klar aus den Elementen auf, dass es dem Denken im höchsten Grade wohltätig war, ihm zu folgen.
Ein zweiter Jahresberichtsaufsatz der Schule war von ihm. Er war aus dem Gebiete der Wahrscheinlichkeitsrechnung und des Lebensversicherungsrechnens. Ich vertiefte mich auch in diesen Aufsatz, obwohl ich auch von ihm noch nicht viel verstehen konnte. Aber ich kam doch bald dazu, den Sinn der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu begreifen. Eine noch wichtigere Folge aber für mich war, dass ich an der Exaktheit, mit welcher der geliebte Lehrer die Materie durchgeführt hatte, ein Vorbild für mein mathematisches Denken hatte. Das aber liess nun ein wunderschönes Verhältnis zwischen diesem Lehrer und mir entstehen. Ich empfand es beglückend, diesen Mann nun durch alle Realschulklassen hindurch als Lehrer der Mathematik und Physik zu haben.
Mit dem, was ich durch ihn lernte, kam ich dem Rätsel, das mir durch die Schriften des Schuldirektors aufgegeben war, immer näher.
Mit einem andern Lehrer kam ich erst nach längerer Zeit in ein näheres seelisches Verhältnis. Es war derjenige, |22 der in den unteren Klassen geometrisches Zeichnen und in den oberen darstellende Geometrie lehrte. Er unterrichtete schon in der zweiten Klasse. Aber erst im Verlaufe des Unterrichtes in der dritten ging mir der Sinn für seine Art auf. Er war ein grossartiger Konstrukteur. Auch sein Unterricht war von musterhafter Klarheit und Geordnetheit. Das Zeichnen mit Zirkel, Lineal und Dreieck wurde mir durch ihn zu einer Lieblingsbeschäftigung. Hinter dem, was ich durch den Schuldirektor, den Mathematik- und Physiklehrer und den des geometrischen Zeichnens in mich aufnahm, stiegen nun in knabenhafter Auffassung die Rätselfragen des Naturgeschehens in mir auf. Ich empfand: ich müsse an die Natur heran, um eine Stellung zu der Geisteswelt zu gewinnen, die in selbstverständlicher Anschauung vor mir stand.
Ich sagte mir, man kann doch nur zurechtkommen mit dem Erleben der geistigen Welt durch die Seele, wenn das Denken in sich zu einer Gestaltung kommt, die an das Wesen der Naturerscheinungen herangelangen kann. Mit diesen Gefühlen lebte ich mich durch die dritte und vierte Realschulklasse durch. Ich ordnete alles, was ich lernte, selbst daraufhin an, mich dem gekennzeichneten Ziele zu nähern.
Da ging ich einmal an einer Buchhandlung vorbei. Im Schaufenster sah ich Kants »Kritik der reinen Vernunft« in Reclams Ausgabe. Ich tat alles, um mir dies Buch so schnell als möglich zu kaufen.
[VII]
Als damals Kant in den Bereich meines Denkens eintrat, wusste ich noch nicht das geringste von dessen Stellung in der Geistesgeschichte der Menschheit. Was irgend ein Mensch über ihn gedacht hat, zustimmend oder ablehnend, war mir gänzlich unbekannt. Mein unbegrenztes Interesse an der Kritik der reinen Vernunft wurde aus meinem ganz persönlichen Seelenleben heraus erregt. Ich strebte auf meine knabenhafte Art danach, zu verstehen, was menschliche Vernunft für einen wirklichen Einblick in das Wesen der Dinge zu leisten vermag.
Die Kantlektüre fand mancherlei Hindernisse an den äusseren Lebenstatsachen. Ich verlor durch den weiten Weg, den ich zwischen Heim und Schule zurückzulegen |23 hatte, täglich wenigstens drei Stunden. Abends kam ich vor sechs Uhr nicht zu Hause an. Dann war eine endlose Masse von Schulaufgaben zu bewältigen. Und an Sonntagen gab ich mich fast ausschliesslich dem konstruktiven Zeichnen hin. Es in der Ausführung der geometrischen Konstruktionen zur grössten Exaktheit, in der Behandlung des Schraffierens und Anlegens der Farbe zur tadellosen Sauberkeit zu bringen, war mir ein Ideal.
So blieb mir für das Lesen der »Kritik der reinen Vernunft« gerade damals kaum eine Zeit. Ich fand den folgenden Ausweg. Die Geschichte wurde uns so beigebracht, dass der Lehrer scheinbar vortrug, aber in Wirklichkeit aus einem Buche vorlas. Wir hatten dann von Stunde zu Stunde das in dieser Art an uns Herangebrachte aus unserem Buche zu lernen. Ich dachte mir, das Lesen des im Buche Stehenden muss ich ja doch zu Hause besorgen. Von dem »Vortrag« des Lehrers hatte ich gar nichts. Ich konnte durch das Anhören dessen, was er las, nicht das geringste aufnehmen. Ich trennte nun die einzelnen Bogen des Kantbüchleins auseinander, heftete sie in das Geschichtsbuch ein, das ich in der Unterrichtsstunde vor mir liegen hatte, und las nun Kant, während vom Katheder herunter die Geschichte »gelehrt« wurde. Das war natürlich gegenüber der Schuldisziplin ein grosses Unrecht; aber es störte niemand und es beeinträchtigte so wenig, was von mir verlangt wurde, dass ich damals in der Geschichte die Note »vorzüglich« bekam.
In den Ferienzeiten wurde die Kantlektüre eifrig fortgesetzt. Ich las wohl manche Seite mehr als zwanzigmal hintereinander. Ich wollte zu einem Urteile darüber kommen, wie das menschliche Denken zu dem Schaffen der Natur steht.
Die Empfindungen, die ich gegenüber diesen Denkbestrebungen hatte, wurden von zwei Seiten her beeinflusst. Zum ersten wollte ich das Denken in mir selbst so ausbilden, dass jeder Gedanke voll überschaubar wäre, dass kein unbestimmtes Gefühl ihn in irgendeine Richtung brächte. Zum zweiten wollte ich einen Einklang zwischen einem solchen Denken und der Religionslehre in mir herstellen. Denn auch diese nahm mich damals im höchsten Grade in Anspruch. Wir hatten gerade auf diesem Gebiete |24 ganz ausgezeichnete Lehrbücher. Dogmatik und Symbolik, die Beschreibung des Kultus, die Kirchengeschichte nahm ich aus diesen Lehrbüchern mit wirklicher Hingebung auf. Ich lebte ganz stark in diesen Lehren. Aber mein Verhältnis zu ihnen war dadurch bestimmt, dass mir die geistige Welt als ein Inhalt der menschlichen Anschauung galt. Gerade deshalb drangen diese Lehren so tief in meine Seele, weil ich an ihnen empfand, wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann. Die Ehrfurcht vor dem Geistigen – das weiss ich ganz bestimmt – wurde mir durch dieses Verhältnis zur Erkenntnis nicht im geringsten genommen.
Auf der andern Seite beschäftigte mich unaufhörlich die Tragweite der menschlichen Gedankenfähigkeit. Ich empfand, dass das Denken zu einer Kraft ausgebildet werden könne, die die Dinge und Vorgänge der Welt wirklich in sich fasst. Ein »Stoff«, der ausserhalb des Denkens liegen bleibt, über den bloss »nachgedacht« wird, war mir ein unerträglicher Gedanke. Was in den Dingen ist, das muss in die Gedanken des Menschen herein, das sagte ich mir immer wieder.
An dieser Empfindung stiess aber auch immer wieder das an, was ich bei Kant las. Aber ich merkte damals diesen Anstoss kaum. Denn ich wollte vor allem durch die »Kritik der reinen Vernunft« feste Anhaltspunkte gewinnen, um mit dem eigenen Denken zurecht zu kommen. Wo und wann ich meine Ferienspaziergänge machte: ich musste mich irgendwo still hinsetzen, und mir immer von neuem zurechtlegen, wie man von einfachen, überschaubaren Begriffen zur Vorstellung über die Naturerscheinungen kommt. Ich verhielt mich zu Kant damals ganz unkritisch; aber ich kam durch ihn nicht weiter.
Ich wurde durch alles dieses nicht abgezogen von den Dingen, welche die praktische Handhabung von Verrichtungen und die Ausbildung der menschlichen Geschicklichkeit betrafen. Es fand sich, dass einer der Beamten, die meinen Vater im Dienste ablösten, die Buchbinderei verstand. Ich lernte von ihm das Buchbinden und konnte mir in den Ferien, die zwischen der vierten und fünften Realschulklasse lagen, meine Schulbücher selbst einbinden. Auch lernte ich in dieser Zeit während der Ferien die Stenographie |25 ohne Lehrer. Trotzdem machte ich dann die Stenographiekurse mit, die von der fünften Klasse an gehalten wurden.
Gelegenheit zum praktischen Arbeiten gab es genug. Meinen Eltern war in der Umgebung des Bahnhofes ein kleiner Garten mit Obstbäumen und ein kleines Kartoffelfeld zugeteilt. Kirschenpflücken, die Gartenarbeiten besorgen, die Kartoffeln für die Aussaat vorbereiten, den Acker bestellen, die reifen Kartoffeln ausgraben, das alles wurde von meinen Geschwistern und mir mitbesorgt. Den Lebensmitteleinkauf im Dorfe zu besorgen, liess ich mir in den Zeiten, die mir die Schule frei liess, nicht nehmen.
Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, durfte ich zu dem schon erwähnten Arzte in Wiener-Neustadt in ein näheres Verhältnis treten. Ich hatte ihn durch die Art, wie er bei seinen Neudörfler Besuchen mit mir sprach, sehr lieb gewonnen. So schlich ich denn öfter an seiner Wohnung, die in einem Erdgeschosse an der Ecke zweier ganz schmaler Gässchen in Wiener-Neustadt lag, vorbei. Einmal war er am Fenster. Er rief mich in sein Zimmer. Da stand ich vor einer für meine damaligen Begriffe »grossen« Bibliothek. Er sprach wieder von Literatur, nahm dann Lessings »Minna von Barnhelm« aus der Büchersammlung und sagte, das solle ich lesen und dann wieder zu ihm kommen. So gab er mir immer wieder Bücher zum Lesen und erlaubte mir, von Zeit zu Zeit zu ihm zu gehen. Ich musste ihm dann jedesmal, wenn ich ihn besuchen durfte, von meinen Eindrücken aus dem Gelesenen erzählen. Er wurde dadurch eigentlich mein Lehrer in dichterischer Literatur. Denn diese war mir bis dahin sowohl im Elternhause wie in der Schule, ausser einigen »Proben«, ziemlich ferne geblieben. Ich lernte in der Atmosphäre des liebevollen, für alles Schöne begeisterten Arztes besonders Lessing kennen.
Ein anderes Ereignis beeinflusste tief mein Leben. Die mathematischen Bücher, die Lübsen zum Selbstunterricht geschrieben hat, wurden mir bekannt. Da konnte ich analytische Geometrie, Trigonometrie und auch Differential- und Integralrechnung mir aneignen, lange bevor ich sie schulmässig lernte. Das setzte mich in den Stand, zu der Lektüre der Bücher über »Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen« wieder |26 zurückzukehren. Denn nunmehr konnte ich sie durch meine mathematischen Kenntnisse besser verstehen. Es war ja auch mittlerweile zum Physikunterricht der aus der Chemie getreten und damit für mich eine neue Anzahl von Erkenntnisrätseln zu den alten. Der Chemielehrer war ein ausgezeichneter Mann. Er gab den Unterricht fast ausschliesslich experimentierend. Er sprach wenig. Er liess die Naturvorgänge für sich sprechen. Er war einer unserer beliebtesten Lehrer. Es war etwas Merkwürdiges an ihm, wodurch er sich für seine Schüler von den andern Lehrern unterschied. Man setzte von ihm voraus, dass er zu seiner Wissenschaft in einem nähern Verhältnisse stehe als die andern. Diese sprachen wir Schüler mit dem Titel »Professor« an; ihn, trotzdem er ebenso gut »Professor« war, mit »Herr Doktor«. Er war der Bruder des sinnigen tirolischen Dichters Hermann v. Gilm. Er hatte einen Blick, der die Aufmerksamkeit stark anzog. Man bekam das Gefühl, dieser Mann ist gewohnt, scharf auf die Naturerscheinungen hinzusehen und sie dann im Blicke zu behalten.
Sein Unterricht verwirrte mich ein wenig. Die Fülle der Tatsachen, die er brachte, konnte meine damals nach Vereinheitlichung drängende Seelenart nicht immer zusammenhalten. Dennoch muss er die Ansicht gehabt haben, dass ich in der Chemie gute Fortschritte mache. Denn er gab mir von Anfang an die Note »lobenswert«, die ich dann durch alle Klassen beibehielt.
In einem Antiquariat in Wiener-Neustadt entdeckte ich eines Tages in jener Zeit die Weltgeschichte von Rotteck. Geschichte war meiner Seele vorher, trotzdem ich in der Schule die besten Noten bekam, etwas Äusserliches geblieben. Jetzt wurde sie mir etwas Innerliches. Die Wärme, mit der Rotteck die geschichtlichen Ereignisse ergriff und schilderte, riss mich hin. Seinen einseitigen Sinn in der Auffassung bemerkte ich noch nicht. Durch ihn wurde ich dann weiter zu zwei andern Geschichtsschreibern gebracht, die durch ihren Stil und durch ihre geschichtliche Lebensauffassung den tiefsten Eindruck auf mich machten: Johannes von Müller und Tacitus. Es wurde unter solchen Eindrücken für mich recht schwer, mich in den Schulunterricht aus Geschichte und Literatur hineinzufinden. Aber ich versuchte, mir diesen Unterricht durch alles das zu beleben,|27 was ich ausserhalb desselben mir angeeignet hatte. In einer solchen Art verbrachte ich die Zeit in den drei obern der sieben Realschulklassen.
[VIII]
Von meinem fünfzehnten Lebensjahre an gab ich Nachhilfestunden, entweder an Mitschüler desselben Jahrganges oder an Schüler, die in einem niedrigeren Jahrgange waren als ich selbst. Man vermittelte mir von Seite des Lehrerkollegiums gerne diesen Nachhilfeunterricht, denn ich galt ja als »guter Schüler«. Und mir war dadurch die Möglichkeit geboten, wenigstens ein Geringes zu dem beizusteuern, was meine Eltern von ihrem kärglichen Einkommen für meine Ausbildung aufwenden mussten.
Ich verdanke diesem Nachhilfeunterricht sehr viel. Indem ich den aufgenommenen Unterrichtsstoff an Andere weiterzugeben hatte, erwachte ich gewissermassen für ihn. Denn ich kann nicht anders sagen, als dass ich die Kenntnisse, die mir selbst von der Schule übermittelt wurden, wie in einem Lebenstraume aufnahm. Wach war ich in dem, was ich mir selbst errang oder was ich von einem geistigen Wohltäter, wie dem erwähnten Wiener-Neustädter Arzt, erhielt. Von dem, was ich so in einen vollbewussten Seelenzustand hereinnahm, unterschied sich beträchtlich, was wie traumbildhaft als Schulunterricht an mir vorüberging. Für die Umbildung dieses halbwach Aufgenommenen sorgte nun die Tatsache, dass ich meine Kenntnisse in den Nachhilfestunden beleben musste.
Andererseits war ich dadurch genötigt, mich in einem frühen Lebensalter mit praktischer Seelenkunde zu beschäftigen. Ich lernte die Schwierigkeiten der menschlichen Seelenentwicklung an meinen Schülern kennen.
Den Mitschülern des gleichen Jahrganges, die ich unterrichtete, musste ich vor allem die deutschen Aufsätze machen. Da ich jeden solchen Aufsatz auch noch für mich selbst zu schreiben hatte, musste ich für jedes Thema, das uns gegeben wurde, verschiedene Formen der Ausarbeitung finden. Ich fühlte mich da oft in einer recht schwierigen Lage. Meinen eigenen Aufsatz machte ich erst, nachdem ich die besten Gedanken für das Thema weggegeben hatte.
Mit dem Lehrer der deutschen Sprache und Literatur in den drei oberen Klassen stand ich in einem ziemlich gespannten |28 Verhältnis. Er galt unter meinen Mitschülern als der »gescheiteste Professor« und als besonders strenge. Meine Aufsätze waren immer besonders lange geworden. Die kürzere Fassung hatte ich ja an meinen Mitschüler diktiert. Der Lehrer brauchte lange, um meine Aufsätze zu lesen. Als er nach der Abgangsprüfung beim Abschiedsfeste zum erstenmal mit uns Schülern »gemütlich« zusammen war, sagte er mir, wie ärgerlich ich ihm durch die langen Aufsätze geworden war.
Dazu kam noch ein anderes. Ich fühlte, dass durch diesen Lehrer etwas in die Schule hereinragte, mit dem ich fertig werden musste. Wenn er zum Beispiel über das Wesen der poetischen Bilder sprach, da empfand ich, dass etwas im Hintergrunde stand. Nach einiger Zeit kam ich darauf, was es war. Er bekannte sich zur Herbart’schen Philosophie. Er selbst sagte davon nichts. Aber ich kam dahinter. Und so kaufte ich mir denn eine »Einleitung in die Philosophie« und eine »Psychologie«, die beide vom Herbart’schen philosophischen Gesichtspunkte aus geschrieben waren.
Und jetzt begann eine Art Versteckspiel zwischen diesem Lehrer und mir durch die Aufsätze. Ich fing an, manches bei ihm zu verstehen, was er in der Färbung der Herbart’schen Philosophie vorbrachte; und er fand in meinen Aufsätzen allerlei Ideen, die auch aus dieser Ecke kamen. Es wurde nur weder von ihm, noch von mir der Herbart’sche Ursprung genannt. Das war wie durch ein stilles Übereinkommen. Aber einmal schloss ich einen Aufsatz in einer gegenüber dieser Lage unvorsichtigen Art. Ich hatte über irgendeine Charaktereigenschaft bei den Menschen zu schreiben. Zum Schluss brachte ich den Satz: »ein solcher Mensch hat psychologische Freiheit.« Der Lehrer besprach mit uns Schülern die Aufsätze, nachdem er sie korrigiert hatte. Als er an die Besprechung des genannten Aufsatzes kam, verzog er mit gründlicher Ironie die Mundwinkel und sagte: »Sie schreiben da etwas von psychologischer Freiheit; die gibt es ja gar nicht.« Ich erwiderte: »Ich meine, das ist ein Irrtum, Herr Professor, die ›psychologische Freiheit‹ gibt es schon; es gibt nur keine ›transzendentale Freiheit‹ im gewöhnlichen Bewusstsein.« Die Mundfalten des Lehrers wurden wieder glatt; er sah mich mit einem durchdringenden |29 Blicke an und sagte dann: »Ich bemerke schon lange an Ihren Aufsätzen, dass Sie eine philosophische Bibliothek haben. Ich möchte Ihnen raten, darin nicht zu lesen; Sie verwirren sich dadurch nur Ihre Gedanken.« Ich konnte nun durchaus nicht begreifen, warum ich meine Gedanken durch Lesen derselben Bücher verwirren sollte, aus denen er die seinigen hatte. Und so blieb denn das Verhältnis zwischen ihm und mir weiter ein gespanntes.
Sein Unterricht gab mir viel zu tun. Denn er umfasste in der fünften Klasse die griechische und lateinische Dichtung, von der Proben in deutscher Übersetzung vorgebracht wurden. Erst jetzt begann ich zuweilen schmerzlich zu empfinden, dass mich mein Vater nicht in das Gymnasium, sondern in die Realschule geschickt hatte. Denn ich fühlte, wie wenig ich von der Eigenart der griechischen und lateinischen Kunst durch die Übersetzungen berührt wurde. Und so kaufte ich mir griechische und lateinische Lehrbücher und trieb ganz im stillen neben dem Realschulunterricht einen privaten Gymnasialunterricht. Das beanspruchte viel Zeit; aber es legte auch den Grund dazu, dass ich doch noch später, zwar abnorm, aber ganz regelrecht das Gymnasium absolvierte. Ich musste nämlich, als ich an der Hochschule in Wien war, erst recht viele Nachhilfestunden geben. Ich bekam bald einen Gymnasiasten zum Schüler. Die Umstände, von denen ich noch sprechen werde, bewirkten, dass ich diesen Schüler fast durch das ganze Gymnasium hindurch mit Hilfe von Privatstunden zu führen hatte. Ich unterrichtete ihn auch im Lateinischen und Griechischen, so dass ich an seinem Unterricht alle Einzelheiten des Gymnasialunterrichtes mitzuerleben hatte.
Die Lehrer aus der Geschichte und Geographie, die mir in den unteren Klassen so wenig geben konnten, wurden nun in den oberen Klassen doch noch von Bedeutung für mich. Gerade derjenige, der mich zu einer so sonderbaren Kantlektüre getrieben hatte, schrieb einmal einen Schulprogrammaufsatz über die »Eiszeit und ihre Ursachen«. Ich nahm den Inhalt mit grosser seelischer Begierde auf und behielt davon ein reges Interesse für das Eiszeitproblem. Aber dieser Lehrer war auch ein guter Schüler des ausgezeichneten Geographen Friedrich Simony. Das brachte ihn dazu, in den oberen Klassen, zeichnend an der Schultafel, |30 die geologisch-geographischen Verhältnisse der Alpen zu entwickeln. Da las ich nun allerdings nicht Kant, sondern war ganz Auge und Ohr. Ich bekam von dieser Seite her viel von dem Lehrer, dessen Geschichtsunterricht mich gar nicht interessierte.
In der letzten Realschulklasse bekam ich erst einen Lehrer, der mich auch durch seinen Geschichtsunterricht fesselte. Er unterrichtete Geschichte und Geographie. In dieser wurde die Alpengeographie in der reizvollen Art fortgesetzt, die schon bei dem andern Lehrer vorhanden war. In der Geschichte wirkte der neue Lehrer stark auf uns Schüler. Er war für uns eine Persönlichkeit aus dem Vollen heraus. Er war Parteimann, ganz begeistert für die fortschrittlichen Ideen der damaligen österreichischen liberalen Richtung. Aber in der Schule bemerkte man davon gar nichts. Er trug von seinen Parteiansichten nichts in die Schule hinein. Aber sein Geschichtsunterricht hatte durch seinen Anteil am Leben selbst starkes Leben. Ich hörte mit den Ergebnissen meiner Rotteck-Lektüre in der Seele die temperamentvollen geschichtlichen Auseinandersetzungen dieses Lehrers. Es gab einen schönen Einklang. Ich muss es als wichtig für mich ansehen, dass ich gerade die neuzeitliche Geschichte auf diese Art in mich aufnehmen konnte.
Im Elternhause hörte ich damals viel diskutieren über den russisch-türkischen Krieg (1877‒78). Der Beamte, der damals die Ablösung meines Vaters im Dienste an jedem dritten Tag hatte, war ein origineller Mensch. Er kam immer zur Ablösung mit einer mächtigen Reisetasche. Darinnen hatte er grosse Manuskriptpakete. Es waren Auszüge aus den verschiedensten wissenschaftlichen Büchern. Er gab sie mir nach und nach zum Lesen. Ich verschlang sie. Mit mir diskutierte er dann über diese Dinge. Denn er hatte wirklich auch im Kopfe eine zwar chaotische, aber umfassende Anschauung von alledem, was er zusammengeschrieben hatte. – Mit meinem Vater aber politisierte er. Er nahm begeistert Partei für die Türken; mein Vater verteidigte mit starker Leidenschaft die Russen. Er gehörte zu denjenigen Persönlichkeiten, die Russland damals noch dankbar waren für die Dienste, die es den Österreichern beim ungarischen Aufstande (1848) geleistet hatte. Denn mit den Ungarn war mein Vater gar nicht einverstanden. Er lebte ja an dem |21 ungarischen Grenzorte Neudörfl in der Zeit der Magyarisierung. Und immer war über seinem Haupte das Damoklesschwert, dass er nicht Leiter der Station Neudörfl sein könne, weil er nicht magyarisch sprechen könne. Es war dies in der dortigen urdeutschen Gegend zwar ganz unnötig. Aber die ungarische Regierung arbeitete darauf hin, dass die ungarischen Linien der Eisenbahnen mit magyarisch sprechenden Beamten auch bei Privatbahnen besetzt würden. Mein Vater wollte aber seinen Posten in Neudörfl so lange behalten, bis ich mit der Schule in Wiener-Neustadt fertig war. Durch alles dieses war er den Ungarn recht wenig geneigt. Und weil er die Ungarn nicht mochte, liebte er in seiner einfachen Art zu denken: die Russen, die 1848 den Ungarn »den Herrn gezeigt hatten«. Diese Denkweise wurde ausserordentlich leidenschaftlich, aber in der zugleich ausserordentlich liebenswürdigen Art meines Vaters gegenüber dem »Türkenfreund« in der Person seines »Ablösers« vertreten. Die Wogen der Diskussion gingen manchmal recht hoch. Mich interessierte das Aufeinanderplatzen der Persönlichkeiten stark, ihre politischen Ansichten fast gar nicht. Denn mir war damals weit wichtiger, die Frage zu beantworten: inwiefern lässt sich beweisen, dass im menschlichen Denken realer Geist das Wirksame ist?|
Mein Lebensgang