Die Philosophie
B. Die Erfahrung
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GE, 12-25
4.
Feststellung des Begriffes der Erfahrung
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Zwei Gebiete stehen also einander gegenüber, unser Denken und die Gegenstände, mit denen sich dasselbe beschäftigt. Man bezeichnet die letzteren, insofern sie unserer Beobachtung zugänglich sind, als den Inhalt der Erfahrung. Ob es außer unserem Beobachtungsfelde noch Gegenstände des Denkens gibt und welcher Natur dieselben sind, wollen wir vorläufig ganz dahingestellt sein lassen. Unsere nächste Aufgabe wird es sein, jedes von den zwei bezeichneten Gebieten, Erfahrung und Denken, scharf zu umgrenzen. Wir müssen erst die Erfahrung in bestimmter Zeichnung vor uns haben und dann die Natur des Denkens erforschen. Wir treten an die erste Aufgabe heran.
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Was ist Erfahrung? Jedermann ist sich dessen bewußt, daß sein Denken im Konflikte mit der Wirklichkeit angefacht wird. Die Gegenstände im Raume und in der Zeit treten an uns heran; wir nehmen eine vielfach gegliederte, höchst mannigfaltige Außenwelt wahr und durchleben eine mehr oder minder reichlich entwickelte Innenwelt. Die erste Gestalt, in der uns das alles gegenübertritt, steht fertig vor uns. Wir haben an ihrem Zustandekommen keinen Anteil. Wie aus einem uns unbekannten Jenseits entspringend, bietet sich zunächst die Wirklichkeit unserer sinnlichen und geistigen Auffassung dar. Zunächst können wir nur unseren Blick über die uns gegenübertretende Mannigfaltigkeit schweifen lassen.
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Diese unsere erste Tätigkeit ist die sinnliche Auffassung der Wirklichkeit. Was sich dieser darbietet, müssen wir festhalten. Denn nur das können wir reine Erfahrung nennen.
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Wir fühlen sogleich das Bedürfnis, die unendliche Mannigfaltigkeit von Gestalten, Kräften, Farben, Tönen usw., die |13 vor uns auftritt, mit dem ordnenden Verstande zu durchdringen. Wir sind bestrebt, die gegenseitigen Abhängigkeiten aller uns entgegentretenden Einzelheiten aufzuklären. Wenn uns ein Tier in einer bestimmten Gegend erscheint, so fragen wir nach dem Einflusse der letzteren auf das Leben des Tieres; wenn wir sehen, wie ein Stein ins Rollen kommt, so suchen wir nach anderen Ereignissen, mit denen dieses zusammenhängt. Was aber auf solche Weise zustande kommt, ist nicht mehr reine Erfahrung. Es hat schon einen doppelten Ursprung: Erfahrung und Denken.
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Reine Erfahrung ist die Form der Wirklichkeit, in der diese uns erscheint, wenn wir ihr mit vollständiger Entäußerung unseres Selbstes entgegentreten.
Auf diese Form der Wirklichkeit sind die Worte anwendbar, die Goethe in dem Aufsatze »Die Natur« ausgesprochen hat: »Wir sind von ihr umgeben und umschlungen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf.«
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Bei den Gegenständen der äußeren Sinne springt das so in die Augen, daß es wohl kaum jemand leugnen wird. Ein Körper tritt uns zunächst als eine Vielheit von Formen, Farben, von Wärme- und Lichteindrücken entgegen, die plötzlich vor uns sind, wie aus einem uns unbekannten Urquell hervorgegangen.
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Die psychologische Überzeugung, daß die Sinnenwelt, wie sie uns vorliegt, nichts an sich selbst ist, sondern bereits ein Produkt der Wechselwirkung einer uns unbekannten molekularen Außenwelt und unseres Organismus, widerspricht unserer Behauptung nicht. Wenn es auch wirklich wahr wäre, daß Farbe, Wärme usw. nichts weiter sind, als die Art, wie unser Organismus von der Außenwelt affiziert wird, so liegt doch der Prozeß, der das Geschehen der Außenwelt in Farbe, Wärme usw. umwandelt, gänzlich jenseits des Bewußtseins. Unser Organismus mag dabei welche Rolle immer spielen: unserem Denken liegt als |14 fertige, uns aufgedrungene Wirklichkeitsform (Erfahrung) nicht das molekulare Geschehen, sondern jene Farben, Töne usw. vor.
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Nicht so klar liegt die Sache mit unserem Innenleben. Eine genauere Erwägung wird aber hier jeden Zweifel schwinden lassen, daß auch unsere inneren Zustände in derselben Form in den Horizont unseres Bewußtseins eintreten wie die Dinge und Tatsachen der Außenwelt. Ein Gefühl drängt sich mir ebenso auf wie ein Lichteindruck. Daß ich es in nähere Beziehung zu meiner eigenen Persönlichkeit bringe, ist in dieser Hinsicht ohne Belang. Wir müssen noch weiter gehen. Auch das Denken selbst erscheint uns zunächst als Erfahrungssache. Schon indem wir forschend an unser Denken herantreten, setzen wir es uns gegenüber, stellen wir uns seine erste Gestalt als von einem uns Unbekannten kommend vor.
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Das kann nicht anders sein. Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewußtseins ins Auge faßt, Betrachtung, d. h. es richtet den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte.
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Dieser Form des Gegenüberstellens muß sich alles fügen, was Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über diese Form zu erheben. Sollen wir an dem Denken ein Mittel gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann muß es selbst zuerst Erfahrung werden. Wir müssen das Denken innerhalb der Erfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen.
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Nur so wird unsere Weltanschauung der inneren Einheitlichkeit nicht entbehren. Sie würde es sogleich, wenn wir ein fremdes Element in sie hineintragen wollten. Wir treten der bloßen reinen Erfahrung gegenüber und suchen innerhalb ihrer selbst das Element, das über sich und über die übrige Wirklichkeit Licht verbreitet. |15
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5.
Hinweis auf den Inhalt der Erfahrung
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Sehen wir uns nun die reine Erfahrung einmal an. Was enthält sie, wie sie an unserem Bewußtsein vorüberzieht, ohne daß wir sie denkend bearbeiten? Sie ist bloßes Nebeneinander im Raume und Nacheinander in der Zeit; ein Aggregat aus lauter zusammenhanglosen Einzelheiten. Keiner der Gegenstände, die da kommen und gehen, hat mit dem anderen etwas zu tun. Auf dieser Stufe sind die Tatsachen, die wir wahrnehmen, die wir innerlich durchleben, absolut gleichgültig füreinander.
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Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von ganz gleichwertigen Dingen. Kein Ding, kein Ereignis darf den Anspruch erheben, eine größere Rolle in dem Getriebe der Welt zu spielen als ein anderes Glied der Erfahrungswelt. Soll uns klar werden, daß diese oder jene Tatsache größere Bedeutung hat als eine andere, so müssen wir die Dinge nicht bloß beobachten, sondern schon in gedankliche Beziehung setzen. Das rudimentäre Organ eines Tieres, das vielleicht nicht die geringste Bedeutung für dessen organische Funktionen hat, ist für die Erfahrung ganz gleichwertig mit dem wichtigsten Organe des Tierkörpers. Jene größere oder geringere Wichtigkeit wird uns eben erst klar, wenn wir über die Beziehungen der einzelnen Glieder der Beobachtung nachdenken, d. h. wenn wir die Erfahrung bearbeiten.
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Für die Erfahrung ist die auf einer niedrigen Stufe der Organisation stehende Schnecke gleichwertig mit dem höchst entwickelten Tiere. Der Unterschied in der Vollkommenheit der Organisation erscheint uns erst, wenn wir die gegebene Mannigfaltigkeit begrifflich erfassen und durcharbeiten. Gleichwertig in dieser Hinsicht sind auch die Kultur des Eskimo und jene des gebildeten Europäers; Cäsars Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung der |16 Menschheit erscheint der bloßen Erfahrung nicht größer als die eines seiner Soldaten. In der Literaturgeschichte ragt Goethe nicht über Gottsched empor, wenn es sich um die bloße erfahrungsmäßige Tatsächlichkeit handelt.
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Die Welt ist uns auf dieser Stufe der Betrachtung gedanklich eine vollkommen ebene Fläche. Kein Teil dieser Fläche ragt über den anderen empor; keiner zeigt irgend einen gedanklichen Unterschied von dem anderen. Erst wenn der Funke des Gedankens in diese Fläche einschlägt, treten Erhöhungen und Vertiefungen ein, erscheint das eine mehr oder minder weit über das andere emporragend, formt sich alles in bestimmter Weise, schlingen sich Fäden von einem Gebilde zum anderen; wird alles zu einer in sich vollkommenen Harmonie.
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Wir glauben durch unsere Beispiele wohl hinlänglich gezeigt zu haben, was wir unter jener größeren oder geringeren Bedeutung der Wahrnehmungsgegenstände (hier gleichbedeutend genommen mit Dingen der Erfahrung) verstehen, was wir uns unter jenem Wissen denken, das erst entsteht, wenn wir diese Gegenstände im Zusammenhange betrachten. Damit glauben wir zugleich vor dem Einwande gesichert zu sein, daß unsere Erfahrungswelt ja auch schon unendliche Unterschiede in ihren Objekten zeigt, bevor das Denken an sie herantritt. Eine rote Fläche unterscheide sich doch auch ohne Betätigung des Denkens von einer grünen. Das ist richtig. Wer uns aber damit widerlegen wollte, hat unsere Behauptung vollständig mißverstanden. Das gerade behaupten wir ja, daß es eine unendliche Menge von Einzelheiten ist, die uns in der Erfahrung geboten wird. Diese Einzelheiten müssen natürlich voneinander verschieden sein, sonst würden sie uns eben nicht als unendliche, zusammenhanglose Mannigfaltigkeit gegenübertreten. Von einer Unterschiedlosigkeit der wahrgenommenen Dinge ist gar nicht die Rede, sondern von ihrer vollständigen Beziehungslosigkeit, von der unbedingten Bedeutungslosigkeit der einzelnen sinnenfälligen |17 Tatsache für das Ganze unseres Wirklichkeitsbildes. Gerade weil wir diese unendliche qualitative Verschiedenheit anerkennen, werden wir zu unseren Behauptungen gedrängt.
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Träte uns eine in sich geschlossene, harmonisch gegliederte Einheit gegenüber, so könnten wir doch nicht von einer Gleichgültigkeit der einzelnen Glieder dieser Einheit in bezug auf einander sprechen.
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Wer unser oben gebrauchtes Gleichnis deswegen nicht entsprechend fände, hätte es nicht beim eigentlichen Vergleichungspunkte gefaßt. Es wäre freilich falsch, wenn wir die unendlich verschieden gestaltete Wahrnehmungswelt mit der einförmigen Gleichmäßigkeit einer Ebene vergleichen wollten. Aber unsere Ebene soll durchaus nicht die mannigfaltige Erscheinungswelt versinnlichen, sondern das einheitliche Gesamtbild, das wir von dieser Welt haben, solange das Denken nicht an sie herangetreten ist. Auf diesem Gesamtbilde erscheint nach der Betätigung des Denkens jede Einzelheit nicht so, wie sie die bloßen Sinne vermitteln, sondern schon mit der Bedeutung, die sie für das Ganze der Wirklichkeit hat. Sie erscheint somit mit Eigenschaften, die ihr in der Form der Erfahrung vollständig fehlen.
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Nach unserer Überzeugung ist es Johannes Volkelt vorzüglich gelungen, das in scharfen Umrissen zu zeichnen, was wir reine Erfahrung zu nennen berechtigt sind. Schon vor fünf Jahren in seinem Buche über »Kants Erkenntnistheorie« ist sie vortrefflich charakterisiert und in seiner neuesten Veröffentlichung: »Erfahrung und Denken« hat er die Sache dann weiter ausgeführt. Er hat das nun freilich zur Unterstützung einer Ansicht getan, die von der unsrigen grundverschieden ist und in einer wesentlich anderen Absicht, als die unsere gegenwärtig ist. Das kann uns aber nicht hindern, seine vorzügliche Charakterisierung der reinen Erfahrung hierher zu setzen. Sie schildert uns einfach die Bilder, die in einem beschränkten Zeitabschnitte in völlig zusammenhangloser Weise vor unserem |18 Bewußtsein vorüberziehen. Volkelt sagt: »Jetzt hat zum Beispiel mein Bewußtsein die Vorstellung, heute fleißig gearbeitet zu haben, zum Inhalte; unmittelbar daran knüpft sich der Vorstellungsinhalt, mit gutem Gewissen spazieren gehen zu können; doch plötzlich tritt das Wahrnehmungsbild der sich öffnenden Türe und des hereintretenden Briefträgers ein; das Briefträgerbild erscheint bald handausstreckend, bald mundöffnend, bald das Gegenteil tuend; zugleich verbinden sich mit dem Wahrnehmungsinhalte des Mundöffnens allerhand Gehörseindrücke, unter anderen auch einer, daß es draußen zu regnen anfange. Das Briefträgerbild verschwindet aus meinem Bewußtsein, und die Vorstellungen, die nun eintreten, haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte: Ergreifen der Schere, Öffnen des Briefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens, Gesichtsbilder mannigfachster Schriftzeichen, mannigfache sich daran knüpfende Phantasiebilder und Gedanken; kaum ist diese Reihe vollendet, als wiederum die Vorstellung, fleißig gearbeitet zu haben, und die mit Mißmut begleitete Wahrnehmung des fortfahrenden Regens eintreten; doch beide verschwinden aus meinem Bewußtsein, und es taucht eine Vorstellung auf mit dem Inhalte, daß eine während des heutigen Arbeitens gelöst geglaubte Schwierigkeit nicht gelöst sei; damit zugleich sind die Vorstellungen: Willensfreiheit, empirische Notwendigkeit, Verantwortlichkeit, Wert der Tugend, absoluter Zufall, Unbegreiflichkeit usw. eingetreten und verbinden sich miteinander in der verschiedenartigsten, kompliziertesten Weise; und ähnlich geht es weiter.«
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Da haben wir für einen gewissen, beschränkten Zeitabschnitt das geschildert, was wir wirklich erfahren, diejenige Form der Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteil hat.
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Man darf nun durchaus nicht glauben, daß man zu einem anderen Resultate gekommen wäre, wenn man statt dieser alltäglichen Erfahrung etwa die geschildert hätte, die wir an einem wissenschaftlichen Versuche oder an einem |19 besonderen Naturphänomen machen. Hier wie dort sind es einzelne zusammenhanglose Bilder, die vor unserem Bewußtsein vorüberziehen. Erst das Denken stellt den Zusammenhang her.
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Das Verdienst, in scharfen Konturen gezeigt zu haben, was uns eigentlich die von allem Gedanklichen entblößte Erfahrung gibt, müssen wir auch dem Schriftchen: »Gehirn und Bewußtsein« von Dr. Richard Wahle (Wien 1884) zuerkennen; nur mit der Einschränkung, daß, was Wahle als unbedingt gültige Eigenschaften der Erscheinungen der Außen- und Innenwelt hinstellt, nur von der ersten Stufe der Weltbetrachtung gilt, die wir charakterisiert haben. Wir wissen nach Wahle nur von einem Nebeneinander im Raume und einem Nacheinander in der Zeit. Von einem Verhältnisse der neben- oder nacheinander bestehenden Dinge kann nach ihm gar keine Rede sein. Es mag z. B. immerhin irgendwo ein innerer Zusammenhang zwischen dem warmen Sonnenstrahl und dem Erwärmen des Steines bestehen; wir wissen nichts von einem ursächlichen Zusammenhange; uns wird allein klar, daß auf die erste Tatsache die zweite folgt. Es mag auch irgendwo, in einer uns unzugänglichen Welt, ein innerer Zusammenhang zwischen unserem Gehirnmechanismus und unserer geistigen Tätigkeit bestehen; wir wissen nur, daß beides parallel verlaufende Vorkommnisse sind; wir sind durchaus nicht berechtigt, z. B. einen Kausalzusammenhang beider Erscheinungen anzunehmen.
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Wenn freilich Wahle diese Behauptung zugleich als letzte Wahrheit der Wissenschaft hinstellt, so bestreiten wir diese Ausdehnung derselben; sie gilt aber vollkommen für die erste Form, in der wir die Wirklichkeit gewahr werden.
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Nicht nur die Dinge der Außen- und die Vorgänge der Innenwelt stehen auf dieser Stufe unseres Wissens zusammenhanglos da, sondern auch unsere eigene Persönlichkeit ist eine isolierte Einzelheit gegenüber der übrigen Welt. Wir finden uns als eine der unzähligen Wahrnehmungen ohne Beziehung zu den Gegenständen, die uns umgeben. |20
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6.
Berichtigung einer irrigen Auffassung der Gesamt-Erfahrung
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Hier ist nun der Ort, auf ein seit Kant bestehendes Vorurteil hinzuweisen, das sich bereits in gewissen Kreisen so eingelebt hat, daß es als Axiom gilt. Jeder, der es bezweifeln wollte, würde als ein Dilettant hingestellt, als ein Mensch, der nicht über die elementarsten Begriffe moderner Wissenschaft hinausgekommen Ist. Ich meine die Ansicht, als ob es von vornherein feststünde, daß die gesamte Wahrnehmungswelt, diese unendliche Mannigfaltigkeit von Farben und Formen, von Tönen und Wärmedifferenzen usw. nichts weiter sei als unsere subjektive Vorstellungswelt, die nur Bestand habe, solange wir unsere Sinne den Einwirkungen einer uns unbekannten Welt offen halten. Die ganze Erscheinungswelt wird von dieser Ansicht für eine Vorstellung innerhalb unseres individuellen Bewußtseins erklärt, und auf Grundlage dieser Voraussetzung baut man weitere Behauptungen über die Natur des Erkennens auf. Auch Volkelt hat sich dieser Ansicht angeschlossen und seine in bezug auf die wissenschaftliche Durchführung meisterhafte Erkenntnistheorie darauf gegründet. Dennoch ist das keine Grundwahrheit und am wenigsten dazu berufen, an der Spitze der Erkenntniswissenschaft zu stehen.
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Man mißverstehe uns nur ja nicht. Wir wollen nicht gegen die physiologischen Errungenschaften der Gegenwart einen gewiß ohnmächtigen Protest erheben. Was aber physiologisch vollkommen gerechtfertigt ist, das ist deshalb noch lange nicht berufen, an die Pforte der Erkenntnistheorie gestellt zu werden. Es mag als eine unumstößliche physiologische Wahrheit gelten, daß erst durch die Mitwirkung unseres Organismus der Komplex von Empfindungen und Anschauungen entsteht, den wir Erfahrung nannten. Es bleibt doch sicher, daß eine solche Erkenntnis erst das Resultat |21 vieler Erwägungen und Forschungen sein kann. Dieses Charakteristikon, daß unsere Erscheinungswelt in physiologischem Sinne subjektiver Natur ist, ist schon eine gedankliche Bestimmung derselben; hat also ganz und gar nichts zu tun mit ihrem ersten Auftreten. Es setzt schon die Anwendung des Denkens auf die Erfahrung voraus. Es muß ihm daher die Untersuchung des Zusammenhanges dieser beiden Faktoren des Erkennens vorausgehen.
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Man glaubt sich mit jener Ansicht erhaben über die vorkantsche »Naivität«, die die Dinge im Raume und in der Zeit für Wirklichkeit hielt, wie es der naive Mensch, der keine wissenschaftliche Bildung hat, heute noch tut.
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Volkelt behauptet: »daß alle Akte, die darauf Anspruch machen, ein objektives Erkennen zu sein, unabtrennbar an das erkennende, individuelle Bewußtsein gebunden sind, daß sie sich zunächst und unmittelbar nirgends anderswo als im Bewußtsein des Individuums vollziehen und daß sie über das Gebiet des Individuums hinauszugreifen und das Gebiet des draußenliegenden Wirklichen zu fassen oder zu betreten völlig außerstande sind.«
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Nun ist es aber doch für ein unbefangenes Denken ganz unerfindlich, was die unmittelbar an uns herantretende Form der Wirklichkeit (die Erfahrung) an sich trage, das uns irgendwie berechtigen könnte, sie als bloße Vorstellung zu bezeichnen.
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Schon die einfache Erwägung, daß der naive Mensch gar nichts an den Dingen bemerkt, was ihn auf diese Ansicht bringen könnte, lehrt uns, daß in den Objekten selbst ein zwingender Grund zu dieser Annahme nicht liegt. Was trägt ein Baum, ein Tisch an sich, was mich dazu veranlassen könnte, ihn als bloßes Vorstellungsgebilde anzusehen? Zum mindesten darf das also nicht wie eine selbstverständliche Wahrheit hingestellt werden.
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Indem Volkelt das letztere tut, verwickelt er sich in einen Widerspruch mit seinen eigenen Grundprinzipien. Nach unserer Überzeugung mußte er der von ihm erkannten |22 Wahrheit, daß die Erfahrung nichts enthalte als ein zusammenhangloses Chaos von Bildern ohne jegliche gedankliche Bestimmung, untreu werden, um die subjektive Natur derselben Erfahrung behaupten zu können. Er hätte sonst einsehen müssen, daß das Subjekt des Erkennens, der Betrachter, ebenso beziehungslos innerhalb der Erfahrungswelt dasteht wie ein beliebiger anderer Gegenstand derselben. Legt man aber der wahrgenommenen Welt das Prädikat subjektiv bei, so ist das ebenso eine gedankliche Bestimmung, wie wenn man den fallenden Stein für die Ursache des Eindruckes im Boden ansieht. Volkelt selbst will doch aber keinerlei Zusammenhang der Erfahrungsdinge gelten lassen. Da liegt der Widerspruch seiner Anschauung, da wurde er seinem Prinzipe, das er von der reinen Erfahrung ausspricht, untreu. Er schließt sich dadurch in seine Individualität ein und ist nicht mehr imstande, aus derselben herauszukommen. Ja, er gibt das rücksichtslos zu. Es bleibt für ihn alles zweifelhaft, was über die abgerissenen Bilder der Wahrnehmungen hinaus liegt. Zwar bemüht sich, nach seiner Ansicht, unser Denken von dieser Vorstellungswelt aus auf eine objektive Wirklichkeit zu schließen; allein alles Hinausgehen über dieselbe kann uns nicht zu wirklich gewissen Wahrheiten führen. Alles Wissen, das wir durch das Denken gewinnen, ist nach Volkelt vor dem Zweifel nicht geschützt. Es kommt in keiner Weise an Gewißheit der unmittelbaren Erfahrung gleich. Diese allein liefert ein nicht zu bezweifelndes Wissen. Wir haben gesehen, was für ein mangelhaftes.
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Doch das alles kommt nur daher, daß Volkelt der sinnenfälligen Wirklichkeit (Erfahrung) eine Eigenschaft beilegt, die ihr in keiner Weise zukommen kann, und dann auf dieser Voraussetzung seine weiteren Annahmen aufbaut.
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Wir mußten auf die Schrift von Volkelt besondere Rücksicht nehmen, weil sie die bedeutendste Leistung der Gegenwart auf diesem Gebiete ist, und auch deshalb, weil sie als Typus für alle erkenntnistheoretischen Bemühungen gelten |23 kann, die der von uns auf Grundlage der Goetheschen Weltanschauung vertretenen Richtung prinzipiell gegenüberstehen.
7.
Berufung auf die Erfahrung jedes einzelnen Lesers
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Wir wollen den Fehler vermeiden, dem unmittelbar Gegebenen, der ersten Form des Auftretens der Außen- und Innenwelt, von vornherein eine Eigenschaft beizulegen und so auf Grund einer Voraussetzung unsere Ausführungen zur Geltung zu bringen. Ja, wir bestimmen die Erfahrung geradezu als dasjenige, an dem unser Denken gar keinen Anteil hat. Von einem gedanklichen Irrtum kann also am Anfange unserer Ausführungen nicht die Rede sein.
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Gerade darin besteht der Grundfehler vieler wissenschaftlicher Bestrebungen, namentlich der Gegenwart, daß sie glauben die reine Erfahrung wiederzugeben, während sie nur die von ihnen selbst in dieselbe hineingelegten Begriffe wieder herauslesen. Nun kann man uns ja einwenden, daß auch wir der reinen Erfahrung eine Menge von Attributen beigelegt haben. Wir bezeichneten sie als unendliche Mannigfaltigkeit, als ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten usw. Sind das denn nicht auch gedankliche Bestimmungen? In dem Sinne, wie wir sie gebrauchten, gewiß nicht. Wir haben uns dieser Begriffe nur bedient, um den Blick des Lesers auf die gedankenfreie Wirklichkeit zu lenken. Wir wollen diese Begriffe der Erfahrung nicht beilegen; wir bedienen uns ihrer nur, um die Aufmerksamkeit auf jene Form der Wirklichkeit zu lenken, die jedes Begriffes bar ist.
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Alle wissenschaftlichen Untersuchungen müssen ja mittels der Sprache vollführt werden, und die kann wieder nur Begriffe ausdrücken. Aber es ist doch etwas wesentlich anderes, ob man gewisse Worte braucht, um diese oder jene Eigenschaft einem Dinge direkt zuzusprechen oder ob man sich |24 ihrer nur bedient, um den Blick des Lesers oder Zuhörers auf einen Gegenstand zu lenken. Wenn wir uns eines Vergleiches bedienen dürften, so würden wir etwa sagen: Ein anderes ist es, wenn A zu B sagt: »Betrachte jenen Menschen im Kreise seiner Familie und du wirst ein wesentlich anderes Urteil über ihn gewinnen, als wenn du ihn nur in seiner Amtsgebarung kennen lernst«; ein anderes ist es, wenn er sagt: »Jener Mensch ist ein vortrefflicher Familienvater.« Im ersten Falle wird die Aufmerksamkeit des B in einem gewissen Sinne gelenkt; er wird darauf hingewiesen, eine Persönlichkeit unter gewissen Umständen zu beurteilen. Im zweiten Falle wird dieser Persönlichkeit einfach eine bestimmte Eigenschaft beigelegt, also eine Behauptung aufgestellt. So wie hier der erste Fall zum zweiten, so soll sich unser Anfang in dieser Schrift zu dem ähnlicher Erscheinungen der Literatur verhalten. Wenn irgendwo durch die notwendige Stilisierung oder um der Möglichkeit, sich auszudrücken, willen die Sache scheinbar anders ist, so bemerken wir hier ausdrücklich, daß unsere Ausführungen nur den hier auseinandergesetzten Sinn haben und weit entfernt sind von dem Anspruche, irgendwelche von den Dingen selbst geltende Behauptung vorgebracht zu haben.
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Wenn wir nun für die erste Form, in der wir die Wirklichkeit beobachten, einen Namen haben wollten, so glauben wir wohl den der Sache am angemessensten in dem Ausdrucke: Erscheinung für die Sinne zu finden. Wir verstehen da unter Sinn nicht bloß die äußeren Sinne, die Vermittler der Außenwelt, sondern überhaupt alle leiblichen und geistigen Organe, die der Wahrnehmung der unmittelbaren Tatsachen dienen. Es ist ja eine in der Psychologie ganz gebräuchliche Benennung: innerer Sinn für das Wahrnehmungsvermögen der inneren Erlebnisse.
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Mit dem Worte Erscheinung aber wollen wir einfach ein für uns wahrnehmbares Ding oder einen wahrnehmbaren Vorgang bezeichnen, insofern dieselben im Raume oder in der Zeit auftreten. |25
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Wir müssen hier nun noch eine Frage anregen, die uns zu dem zweiten Faktor, den wir behufs der Erkenntniswissenschaft zu betrachten haben, führen soll, zu dem Denken.
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Ist die Art, wie uns die Erfahrung bisher bekannt geworden ist, als etwas im Wesen der Sache Begründetes anzusehen? Ist sie eine Eigenschaft der Wirklichkeit?
Von der Beantwortung dieser Frage hängt sehr viel ab. Ist nämlich diese Art eine wesentliche Eigenschaft der Erfahrungsdinge, etwas, was ihnen im wahrsten Sinne des Wortes ihrer Natur nach zukommt, dann ist nicht abzusehen, wie man überhaupt je diese Stufe des Erkennens überschreiten soll. Man müßte sich einfach darauf verlegen, alles, was wir wahrnehmen, in zusammenhanglosen Notizen aufzuzeichnen, und eine solche Notizensammlung wäre unsere Wissenschaft. Denn, was sollte alles Forschen nach dem Zusammenhange der Dinge, wenn die, ihnen in der Form der Erfahrung zukommende, vollständige Isoliertheit ihre wahre Eigenschaft wäre?
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Ganz anders verhielte es sich, wenn wir es in dieser Form der Wirklichkeit nicht mit deren Wesen, sondern nur mit ihrer ganz unwesentlichen Außenseite zu tun hätten, wenn wir nur eine Hülle von dem wahren Wesen der Welt vor uns hätten, die uns das letztere verbirgt und uns auffordert, weiter nach demselben zu forschen. Wir müßten dann danach trachten, diese Hülle zu durchdringen. Wir müßten von dieser ersten Form der Welt ausgehen, um uns ihrer wahren (wesentlichen) Eigenschaften zu bemächtigen. Wir müßten die Erscheinung für die Sinne überwinden, um daraus eine höhere Erscheinungsform zu entwickeln. – Die Antwort auf diese Frage ist in den folgenden Untersuchungen gegeben. |
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