Die Philosophie
Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:
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Vom Wesen des Christentums
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CM, 138-145
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Die tiefste Wirkung mußte es auf die Bekenner des Christentums ausüben, daß ihnen das Göttliche, das Wort, der ewige Logos nicht mehr in dem geheimnisvollen Dunkel des Mysteriums, als Geist allein, entgegentrat; sondern daß sie, wenn sie von diesem Logos sprachen, immer auf die geschichtliche, menschliche Persönlichkeit Jesu gewiesen wurden. Vorher hatte man ja innerhalb der Wirklichkeit diesen Logos nur auf verschiedenen Stufen menschlicher Vollkommenheiten gesehen. Man konnte die feinen, intimen Unterschiede im Geistesdasein der Persönlichkeit beobachten, und konnte sehen, in welchen Arten und Graden in den einzelnen Persönlichkeiten, welche die Einweihung suchten, der Logos lebendig wurde. Einen höheren Reifegrad mußte man als eine höhere Entwicklungsstufe des geistigen Daseins deuten. Man mußte die Vorstufen dazu in einem abgelebten Geistesleben suchen. Und das gegenwärtige Leben konnte man als Vorstufe von künftigen geistigen Entwicklungsstufen ansehen. Die Erhaltung der geistigen Kraft der Seele, die Ewigkeit dieser Kraft durfte man behaupten im Sinne der jüdischen Geheimlehre (Buch Sohar): »Nichts geht in der Welt verloren, nichts fällt der Leere anheim, nicht einmal die Worte und die Stimme des Menschen; alles hat seine Stelle und seine Bestimmung.« Die Eine Persönlichkeit war nur eine Metamorphose der Seele, die sich von Persönlichkeit zu Persönlichkeit wandelt. Das einzelne Leben der Persönlichkeit |139 kam nur als ein Entwicklungsglied einer nach vorwärts und rückwärts weisenden Kette in Betracht. – Dieser sich wandelnde Logos ist durch das Christentum von der einzelnen Persönlichkeit hingeleitet worden auf die einzige Persönlichkeit Jesu. Was früher auf die ganze Welt verteilt war: das wurde nunmehr auf eine einzige Persönlichkeit vereinigt. Jesus ist der einzige Gottmensch geworden. In Jesus ist damit etwas einmal gegenwärtig gewesen, das dem Menschen als das größte Ideal erscheinen muß, mit dem er sich durch seine wiederholten Leben in der Zukunft immer mehr vereinigen soll. Jesus hat die Vergottung der ganzen Menschheit auf sich genommen. In ihm wurde gesucht, was vorher nur in der eigenen Seele gesucht werden konnte. Man hatte der Persönlichkeit des Menschen das entrissen, was in ihr selbst immer als Göttliches, als Ewiges gefunden worden war. Und man konnte alles dieses Ewige in Jesus schauen. Nicht das Ewige in der Seele überwindet den Tod und wird durch seine Kraft dereinst als Göttliches auferweckt, sondern was in Jesus war, der einige Gott, wird erscheinen und die Seelen auferwecken. Es war damit gegeben, daß die Persönlichkeit eine ganz neue Bedeutung erhielt. Man hatte ihr das Ewige, das Unsterbliche genommen. Sie war als solche, für sich, übrig geblieben. Man mußte, wollte man nicht die Ewigkeit leugnen, dieser Persönlichkeit selbst die Unsterblichkeit zuschreiben. Aus dem Glauben an die ewige Wandelung der Seele wurde der persönliche Unsterblichkeitsglaube. Eine unendliche Wichtigkeit erhielt ja diese Persönlichkeit, weil sie das einzige war, was man am Menschen festhielt. – Es gibt fortan nichts mehr zwischen der Persönlichkeit und dem unendlichen Gott. Man muß sich zu ihm in ein unmittelbares Verhältnis |140 setzen. Man war nicht mehr in höherem oder niederem Grade selbst der Vergöttlichung fähig; man war einfach Mensch, und stand zu Gott in einem unmittelbaren, aber äußeren Verhältnisse. Wer die alte Mysterienanschauung kannte, mußte das als einen ganz neuen Ton in der Weltanschauung empfinden. In diesem Falle waren wohl zahlreiche Persönlichkeiten der ersten christlichen Jahrhunderte. Sie wußten von der Art der Mysterien; wollten sie Christen werden, so mußten sie sich mit dieser alten Art auseinandersetzen. Das mag sie in die schwierigsten Seelenkämpfe gebracht haben. In der mannigfaltigsten Art mögen sie einen Ausgleich gesucht haben zwischen beiden Richtungen der Weltanschauung. Die Schriften der ersten christlichen Jahrhunderte spiegeln diesen Kampf. Sowohl die der Heiden, die von der Hoheit des Christentums angezogen werden; wie auch diejenigen der Christen, denen es schwer wird, die Mysterienweise zu verlassen. Langsam wächst das Christentum aus dem Mysterienwesen heraus. Christliche Überzeugungen werden in der Form der Mysterienwahrheiten vorgetragen; Mysterienweisheit wird in die Worte des Christentums gekleidet. Clemens von Alexandrien, der heidnisch gebildete christliche Schriftsteller (gestorben 217 n. Chr.) gibt davon ein Beispiel: »Gott hat uns nicht versagt, vom Guten auszuruhen in der Feier des Sabbats; denen, die es fassen können, hat er verliehen, an den göttlichen Geheimnissen und an dem heiligen Lichte teilzunehmen; er hat nicht der Menge geoffenbart, was sich für sie nicht schickt, sondern nur wenigen, für die er es geziemend erachtete, die es fassen können und sich darnach bilden, wie Gott das Unaussprechliche dem Logos vertraut, nicht der Schrift. – Gott hat der Kirche einige als Apostel gegeben, andre als |141 Propheten, andre als Evangelisten, andre als Hirten und Lehrer zur Vollendung der Heiligen, zum Werke des Dienstes, zur Erbauung des Leibes Christi.« Auf die mannigfaltigste Art suchen die Persönlichkeiten den Weg von den antiken Anschauungen zu den christlichen zu finden. Und wer auf dem rechten Wege zu sein glaubt, bezeichnet andere als Irrlehrer. Daneben befestigt sich immer mehr die Kirche als äußere Institution. Je mehr sie an Macht gewann, desto mehr trat der Weg, den sie durch die Konzil-Beschlüsse, durch äußere Festsetzung, als den richtigen anerkannte, an die Stelle des persönlichen Forschens. Sie entschied, wer zu weit abwich von der von ihr bewahrten göttlichen Wahrheit. Der Begriff des »Irrlehrers« bekam eine immer festere Gestalt. In den ersten Jahrhunderten des Christentums war das Suchen des göttlichen Weges viel mehr persönliche Angelegenheit als in den späteren. Es war erst ein langer Weg zurückzulegen, bis die Überzeugung des Augustinus möglich war: »Ich würde an die Wahrheit der Evangelien nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu zwänge« (vgl. Seite 98).
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Der Kampf zwischen der Mysterienart und der christlichen bekam eine besondere Prägung durch die verschiedenen »gnostischen« Sekten und Schriftsteller. Als Gnostiker kann man alle Schriftsteller der ersten christlichen Jahrhunderte auffassen, die nach einem tieferen, geistigen Sinn der christlichen Lehren suchten. (Eine glänzende Darstellung der Entwicklung der Gnosis bietet das obengenannte Buch von Mead: Fragmente eines verschollenen Glaubens.) Man versteht diese Gnostiker, wenn man sie ansieht als durchtränkt mit alter Mysterienweisheit und bestrebt, das Christentum von dem Gesichtspunkt |142 der Mysterien aus zu begreifen. Christus ist ihnen der Logos. Er ist zunächst als solcher geistiger Art. Er kann in seiner Urwesenheit nicht von außen an den Menschen herankommen. Er muß in der Seele erweckt werden. Aber der geschichtliche Jesus muß ein Verhältnis haben zu diesem geistigen Logos. Das war die gnostische Grundfrage. Mochte sie der eine so, der andere so lösen. Die Hauptsache bleibt, daß nicht die bloße historische Überlieferung, sondern die Mysterienweisheit, oder die aus derselben Quelle schöpfende neuplatonische Philosophie, die in den ersten christlichen Jahrhunderten blühte, zu einem wirklichen Verständnisse des Christus-Gedankens führen sollte. Man hatte Vertrauen zur Menschenweisheit und glaubte, daß sie einen Christus gebären könne, an dem der geschichtliche gemessen werden kann. Ja, durch den dieser erst verstanden und im rechten Lichte geschaut werden könne.
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Von besonderem Interesse, von diesem Gesichtspunkte aus, ist die Lehre, die in den Büchern des Areopagiten Dionysius auftritt. Allerdings wird dieser Schriften erst im sechsten Jahrhundert Erwähnung getan. Es kommt aber bei ihnen nicht darauf an, wann und wo sie geschrieben sind, sondern darauf, daß sie eine Darstellung des Christentums, ganz eingekleidet in die Vorstellungsart der neuplatonischen Philosophie und in ein geistiges Anschauen der höheren Welt, enthalten. Es ist dies unter allen Umständen eine Darstellungsform, die den ersten christlichen Jahrhunderten angehört. In alten Zeiten hat sich diese Darstellungsform als mündliche Tradition fortgepflanzt ; man vertraute eben in den älteren Zeiten das Wichtigste gerade nicht der Schrift an. Man könnte das Christentum, das sie darstellen, ein solches nennen, |143 das aus dem Spiegel der neuplatonischen Weltanschauung gezeigt werden sollte. Die sinnliche Wahrnehmung trübt dem Menschen das Anschauen des Geistes. Er muß über das Sinnliche hinausgehen. Nun sind aber alle menschlichen Begriffe zunächst aus der sinnlichen Beobachtung geschöpft. Was der sinnliche Mensch beobachtet, das nennt er seiend; was er nicht beobachtet, das bezeichnet er als nicht-seiend. Will der Mensch sich daher eine wirkliche Perspektive zu dem Göttlichen eröffnen, so muß er auch über das Seiende und Nicht-Seiende hinausgehen, denn auch dieses entstammt in seiner Auffassung der Sinnensphäre. Gott ist in diesem Sinne weder seiend, noch nicht-seiend. Er ist überseiend. Man kann ihn daher nicht erreichen mit den Mitteln des gewöhnlichen Erkennens, das es mit dem Seienden zu tun hat. Man muß über sich, über seine Sinnenbeobachtung, über seine verständige Logik hinausgehoben werden, und den Übergang finden zu geistiger Anschauung; dann kann man ahnend in die Perspektive des Göttlichen blicken. – Aber diese überseiende Gottheit hat die weisheitsvolle Grundlage der Welt, den Logos, hervorgebracht. Ihn kann auch die niedere Kraft des Menschen erreichen. Er wird als geistiger Sohn Gottes im Weltgebäude gegenwärtig; er ist der Mittler zwischen Gott und dem Menschen. Er kann in verschiedenen Stufen im Menschen gegenwärtig sein. Ihn kann eine weltliche Institution verwirklichen, indem sie die in verschiedener Art von ihm erfüllten Menschen unter einer Hierarchie vereinigt. Eine solche »Kirche« ist der sinnlich-wirkliche Logos; und die Kraft, die in ihr lebt, lebte persönlich in dem fleischgewordenen Christus, in Jesus. Durch Jesus ist also die Kirche mit Gott vereinigt, in ihm hat sie ihre Spitze und ihren Sinn. |144
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Es war für alle Gnosis klar: mit der Idee von Jesu Persönlichkeit mußte sie sich verständigen. Christus und Jesus mußten in ein Verhältnis gebracht werden. Die Göttlichkeit war der menschlichen Persönlichkeit genommen; sie mußte auf irgend eine Art wieder gefunden werden. Es mußte möglich sein, sie in Jesus wieder zu finden. Der Myste hatte mit einem Grade der Göttlichkeit in sich und mit seiner irdisch-sinnlichen Persönlichkeit zu tun. Der Christ hatte mit dieser und mit einem vollendeten, über alles menschlich Erreichbare erhabenen Gott zu tun. Wird diese Anschauung streng festgehalten, so ist eine mystische Grundstimmung der Seele nur möglich, wenn dieser Seele, indem sie das höhere Geistige in sich findet, das geistige Auge so geöffnet wird, daß in dieses das Licht fällt, welches von dem Christus in dem Jesus ausgeht. Vereinigung der Seele mit ihren höchsten Kräften ist zugleich Vereinigung mit dem geschichtlichen Christus. Denn Mystik ist unmittelbares Fühlen und Empfinden des Göttlichen in der eigenen Seele. Ein über alles Menschliche hinausragender Gott kann aber im wahren Sinne des Wortes nie in der Seele wohnen. Die Gnosis und auch alle spätere christliche Mystik stellen das Bestreben dar, dieses Gottes doch auf irgend eine Art in der Seele unmittelbar teilhaftig zu werden. Ein Kampf mußte da immer entstehen. Man konnte in Wirklichkeit nur sein Göttliches finden, das ist aber Menschlich-Göttliches, ein Göttliches auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Aber der christliche Gott ist doch ein bestimmter, in sich vollendeter. Man konnte in sich finden die Kraft, zu ihm emporzustreben; aber man konnte nicht etwas, was man in der Seele auf irgend einer Stufe erlebte, als eins mit ihm bezeichnen. Zwischen dem, was man in der Seele erkennen |145 konnte, und dem, was das Christentum als göttlich bezeichnete, entstand eine Kluft. Es ist die Kluft zwischen Wissen und Glauben, zwischen Erkennen und religiösem Empfinden. Für den Mysten im alten Sinne kann es diese Kluft nicht geben. Denn er weiß zwar, daß er das Göttliche nur gradweise erfassen kann; aber er weiß auch, warum er nur dies kann. Er ist sich klar, daß er in dem gradweisen Göttlichen doch das wahre, lebendige Göttliche hat; und es wird ihm schwer, von einem vollendeten, abgeschlossenen Göttlichen zu sprechen. Ein solcher Myste will gar nicht den vollendeten Gott erkennen, sondern er will das göttliche Leben erfahren. Er will selbst vergottet sein; er will nicht ein äußerliches Verhältnis zur Gottheit gewinnen. Es ist in dem Wesen des Christentums gelegen, daß seine Mystik nicht in diesem Sinne voraussetzungslos ist. Der christliche Mystiker will in sich selbst die Gottheit schauen, aber er muß zu dem geschichtlichen Christus hinblicken wie das physische Auge zur Sonne; wie dieses sich sagt, durch diese Sonne werde ich erblicken, was ich durch meine Kräfte sehen kann, so sagt der christliche Myste: ich steigere mein Inneres zu göttlichem Schauen: das Licht, das mir solches Schauen ermöglicht, ist in dem erschienenen Christus gegeben. Er ist, wodurch ich in mir zum Höchsten steigen kann. Die christlichen Mystiker des Mittelalters zeigen gerade darin ihren Unterschied von den Mysten der alten Mysterien. (Vgl. mein Buch: Die Mystik im Aufgange.) |
Das Christentum
als mystische Tatsache