Die Philosophie
Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:
XXIX
Über die anthroposophisch-pädagogische Tagung in Holland
AL, XXIX
Zu einer anthroposophisch-pädagogischen Tagung haben im Namen der holländischen Freunde der Anthroposophie Dr. F. W. Zeijlmans v. Emmichoven (im Namen des Vorstandes der anthroposophischen Vereinigung) und E. Mulder-Seelig (im Namen der Lehrer der »Freien Schule«) für die Zeit vom 17. bis zum 24. Juli eingeladen.
Wir haben mit dieser Tagung ein befriedigendes Erlebnis hinter uns. Ein Teil der zu haltenden Vorträge, die pädagogischen und die öffentlichen auf Heilkunde bezüglichen, waren auch für Nicht-Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft berechnet. An den pädagogischen nahmen ausser den Mitgliedern, die von vielen Seiten zusammengekommen waren, viele Nicht-Mitglieder teil, so dass die ständige Zuhörerzahl etwa 250 betrug. Die öffentlichen Vorträge waren sehr gut besucht.
Der Vorstand der holländischen Vereinigung ist vollzählig erschienen. Von dem Vorstand am Goetheanum waren anwesend: ausser mir der Schriftführer Frau Dr. J. Wegman, dann Frau Marie Steiner, Frl. Dr. L. Vreede und Dr. Wachsmuth. Vortragende waren ausser mir Dr. Zeijlmans van Emmichoven, Dr. Schubert, Dr. v. Baravalle und die Lehrer der »Freien Schule« Stibbe und v. Bemmelen. Ausserdem wurden zwei Kurse über Sprachkunst, ein allgemeiner und einer für Vorgerückte von Frau Marie Steiner gehalten.
Meine Tätigkeit umfasste: einen pädagogischen Kurs in 9 Vorträgen mit dem Thema »Der pädagogische Wert der Menschen-Erkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik«, drei öffentliche Vorträge über das Thema »Was kann die Heilkunst durch eine geisteswissenschaftliche Betrachtung gewinnen?«, ferner drei Mitgliedervorträge und zwei Klassenstunden.
In den pädagogischen Vorträgen habe ich mir diesmal zur Aufgabe gesetzt, das Wesen einer echten Menschen-Erkenntnis und deren Bedeutung für den Erziehenden und Unterrichtenden so herauszuarbeiten, dass anschaulich werden konnte, wie die Erziehungsmassnahmen sich an der lebendigen Einsicht in Leib, Seele und Geist so entzünden können, dass sie demganzen Menschen im Kinde die allseitige Entfaltung ermöglichen. Ich führte aus, wie viel der Erziehende vom gesunden und kranken Menschen wissen müsse und wie die dieses Wissen durchdringende Erzieher-Gesinnung in der pädagogischen Kunst wirkt. Inwieweit die Anschauung des Karmas, des im Kinde sich offenbarenden Schicksalzusammenhanges, in der Seelenverfassung des Pädagogen wirksam sein soll, wurde dargestellt. Wie die Erziehungsmassnahmen die Seele fördern oder hemmen, in welcher Art die gesunde Entfaltung des Kindes richtig orientiert, dem Krankhaften vorgebeugt, oder wenn es sich einstellt, ihm begegnet werden kann: das bildete den Gegenstand der Ausführungen. An dem Beispiele der Waldorfschule wurde gezeigt, wie man in den Schulorganismus lebendige Menschen-Erkenntnis bringen kann. Das Leitmotiv der Vortragsreihe war: eine wahre pädagogische Kunst müsse durch das Leben, das der Erziehende in seiner Menschen-Erkenntnis entfaltet, eine lebendige Art des Erziehens zustande bringen, dass das Kind in Leib, Seele und Geist wirklich Leben empfängt. Durch Leben lebensvoll Leben bewirken. ‒ Welche Bedeutung die Erziehung des werdenden Menschen für die Entwicklung der ganzen Menschheit hat, das wurde veranschaulicht.
In den öffentlichen, die Heilkunst berührenden Vorträgen versuchte ich zu zeigen, wie die anthroposophische Erkenntnis der menschlichen Organisation in das Wesen des Krankseins hineinleuchtet, und wie man dadurch eine solche Anschauung vom Kranksein erhalten könne, dass in diesem Anschauen die Erkenntnis des notwendigen Heilungsprozesses sich ergibt. Anthroposophie ist ja imstande, neben der Erkenntnis des Menschen eine solche Einsicht in die Substanzen und Vorgänge der aussermenschlichen Welt zu vermitteln, dass man z. B. zeigen kann, wie eine Substanz dem Wuchern oder Verkümmern in der menschlichen Organisation entgegenarbeitet. An dem Beispiel der Kieselsäure wurde das erörtert. Auf die Stellung des Klinisch-therapeutischen Institutes wurde gedeutet, das von meiner lieben Mitarbeiterin Dr. J. Wegmann in anthroposophischem Sinne so geleitet wird, das dasselbe die uralte Angliederung der Heilkunst an die in Weltanschauung lebende Erkenntnis in einer neuen Form wieder angestrebt wird. In den Mysterien war diese Angliederung vorhanden; sie muss wieder erreicht werden. ‒ So konnte im Weiteren gezeigt werden, wie aus der Anschauung des Krankseins das Heilmittel und Heilverfahren sich ergibt. Das Wesen derjenigen Heilmittel, die durch die internationale Laboratoriumgesellschaft in Arlesheim hergestellt werden, konnte gezeigt werden.‒
In der lebendigen Teilnahme an den Kursen über sprachliche Kunst, die von Marie Steiner gegeben wurden, zeigt sich, dass die Bedeutung des »Sprechen-Könnens« einem sich steigernden Verständnis entgegengeht. In der künstlerischen Gestaltung der Sprache kommt ja das gesunde Zusammenwirken und Sich-Harmonisieren von Leib, Seele und Geist zur Offenbarung. Der Leib zeigt, ob er sich den Geist in rechter Art einzugliedern vermag; die Seele, offenbart, ob der Geist in ihr auf wahre Art lebt; und der Geist stellt sich in unmittelbarer physischer Wirkung anschaulich dar. Die an Sprachkursen teilnehmenden Persönlichkeiten erleben so die Offenbarung der Anthroposophie an der Betätigung des Menschen ganz unmittelbar. Es darf als eine Erprobung der Anthroposophie angesehen werden, dass sie in der Lage ist, die Sprachkunst in ihrer vollen Bedeutung wieder aufleben zu lassen, die doch durch den Materialismus in der Weltanschauung in eine hilflose Lage gebracht worden ist.
In den Zweigvorträgen wurde die Art dargestellt, wie die Anschauung des übersinnlichen Elementes in der Menschheitsentwicklung zur Erkenntnis der Aufgaben führt, die der anthroposophischen Bewegung obliegen. Was man die »michaelische« Führung der Menschheit in einem übersinnlichen Geschehen im Altertum vom 7. vorchristlichen Jahrhundert bis zur Alexanderzeit, dann wieder in unserer Gegenwart nennen kann, wurde zur Darstellung gebracht. Aus einer solchen Darstellung muss sich ja die Begeisterung ergeben, die das Leben der Anthroposophischen Gesellschaft durchdringen sollte. ‒
Dr. Zeijlmans in holländischer Sprache gehaltener Vortrag, der die Beziehung zur Anthroposophie zu physiologischer und pathologischer Menschen-Erkenntnis zum Inhalt hatte, wird mir von Dr. J. Wegman als eine ganz ausgezeichnete Leistung charakterisiert.
Eine Probe in Eurhythmie durch die Kinder der »Freien Schule« gliederte sich gut in den Rahmen des Programmes ein.
Unsere holländischen Freunde haben sich die grösste Mühe gegeben, diese Veranstaltung zu einer würdigen zu machen; der herzliche Dank aller, die an dem Gedeihen der anthroposophischen Bewegung Anteil nehmen, muss ihnen entgegen gebracht werden.
Weitere Leitsätze
AL, 81
72. Sobald man an die höheren Glieder der menschlichen Wesenheit: den aetherischen, astralischen Leib und die Ich-Organisation herantritt, ist man genötigt, das Verhältnis des Menschen zu den Wesen der geistigen Reiche zu suchen. Nur die physische Leibesorganisation kann von den drei physischen Naturreichen aus beleuchtet werden.
73. Im Aetherleibe gliedert sich dem Menschenwesen die Intelligenz des Kosmos ein. Dass dies geschehen kann, setzt die Tätigkeit von Welt-Wesen voraus, die in ihrem Zusammenwirken den menschlichen Aetherleib so gestalten wie die physischen Kräfte den physischen.
74. Im Astralleibe prägt die geistige Welt dem Menschenwesen die moralischen Impulse ein. Dass diese in der menschlichen Organisation sich darleben können, ist von der Tätigkeit solcher Wesen abhängig, die das Geistige nicht nur denken, sondern wesenhaft gestalten können.
75. In der Ich-Organisation erlebt der Mensch im physischen Leib sich selbst als Geist. Dass dies geschehen kann, ist die Tätigkeit von Wesen notwendig, die selbst als geistige in der physischen Welt leben. |82
XXX
Wie die Leitsätze anzuwenden sind
AL, 82-86
In den Leitsätzen, die vom Goetheanum ausgegeben werden, soll die Anregung für die tätig sein wollenden Mitglieder gegeben sein, den Inhalt des anthroposophischen Wirkens einheitlich zu gestalten. Man wird finden, wenn man an diese Sätze jede Woche herantritt, dass sie eine Anleitung dazu geben, sich in den vorhandenen Stoff der Zyklen zu vertiefen und diesen in einer gewissen Anordnung in den Zweigversammlungen vorzubringen.
Es wäre ja gewiss wünschenswerter, wenn jede Woche sogleich die Vorträge, die in Dornach gehalten werden, in allen Richtungen an die einzelnen Zweige gebracht werden könnten. Allein, man sollte auch bedenken, welch komplizierte technische Einrichtungen dazu nötig sind. Es wird gewiss von Seite des Vorstandes am Goetheanum nach dieser Richtung alles Mögliche angestrebt und noch getan werden. Aber man muss mit den vorhandenen Möglichkeiten rechnen. Die Absichten, die auf der Weihnachtstagung geäussert worden sind, werden verwirklicht werden. Aber wir brauchen Zeit.
Vorläufig sind diejenigen Zweige im Vorteil, welche Mitglieder in sich haben, die das Goetheanum besuchen, da die Vorträge hören und deren Inhalt in den Zweigversammlungen vorbringen können. Und es sollte von den Zweigen erkannt werden, dass die Entsendung solcher Mitglieder an das Goetheanum eine Wohltat ist. Aber man sollte auch nicht die Arbeit, die in der Anthroposophischen Gesellschaft schon geleistet ist, und die in |83 den gedruckten Zyklen und Vorträgen vorliegt, allzu sehr unterschätzen. Wer diese Zyklen vornimmt, sich nach den Titeln erinnert, welcher Stoff in diesem oder jenem enthalten ist, und dann an die Leitsätze herantritt, der wird finden, dass er in dem einen Zyklus das Eine und in dem anderen ein Anderes findet, das den Leitsatz weiter ausführt. Aus dem Zusammenlesen dessen, was in den einzelnen Zyklen getrennt steht, können die Gesichtspunkte gefunden werden, von denen aus in Anlehnung an die Leitsätze gesprochen werden kann.
Wir wirken in der Anthroposophischen Gesellschaft wie rechte Verschwender, wenn wir die gedruckten Zyklen ganz unbenutzt lassen und immer nur »das Neueste« vom Goetheanum empfangen wollen. Es ist doch auch leicht begreiflich, dass allmählich jede Möglichkeit, die Zyklen zu drucken, aufhören müsste, wenn diese nicht ausgiebig benützt würden.
Es kommt noch ein anderer Gesichtspunkt in Frage. Bei der Verbreitung des Inhaltes der Anthroposophie ist Gewissenhaftigkeit und Verantwortlichkeitsgefühl in allererster Linie notwendig. Man muss das, was über die geistige Welt gesagt wird, in eine Form bringen, dass die Bilder der geistigen Tatsachen und Wesenheiten, die gegeben werden, nicht Missverständnissen ausgesetzt werden. Wer am Goetheanum einen Vortrag hört, kann einen unmittelbaren Eindruck haben. Wenn er dessen Inhalt wiedergibt, so kann bei ihm dieser Eindruck nachklingen; und er ist imstande, die Dinge so zu formulieren, dass sie richtig verstanden werden können. Wird aber ein Zweiter, Dritter der Vermittler, so wird die Wahrscheinlichkeit immer grösser, dass sich Ungenauigkeiten einschleichen. Alle diese Dinge sollten bedacht werden. |84
Und ein weiterer Gesichtspunkt ist ja wohl der allerwichtigste. Es handelt sich ja nicht darum, dass der anthroposophische Inhalt nur äusserlich angehört oder gelesen werde, sondern dass er in das lebendige Seelenwesen aufgenommen werde. Im Fortdenken und Fortfühlen des Aufgenommenen liegt ein Wesentliches. Das aber soll mit Bezug auf die schon vorliegenden gedruckten Zyklen gerade durch die Leitsätze angeregt werden. Wird dieser Gesichtspunkt zu wenig berücksichtigt, so wird es fortdauernd daran fehlen, dass das Wesen der Anthroposophie durch die Anthroposophische Gesellschaft sich offenbaren könne. Man sagt nur mit scheinbarem Recht: was nützt es mir, noch soviel von geistigen Welten zu hören, wenn ich nicht selbst in solche Welten hineinschauen kann. Man berücksichtigt dabei nicht, dass dieses Hineinschauen gefördert wird, wenn über die Verarbeitung des anthroposophischen Inhaltes so gedacht wird, wie es hier angedeutet ist. Die Vorträge am Goetheanum sind so gehalten, dass ihr Inhalt lebendig und frei in den Gemütern der Zuhörer fortwirken kann. Und so ist auch der Inhalt der Zyklen. Da ist kein totes Material zur blossen äusseren Mitteilung; da ist Stoff, der unter verschiedene Gesichtspunkte gerückt das Schauen in geistige Welten anregt. Man sollte nicht glauben: den Inhalt der Vorträge höre ich an; die Erkenntnis der geistigen Welt eigne ich mir durch Meditation an. So wird man nie im wahren Sinne weiterkommen. Beides muss in der Seele zusammenwirken. Und das Fortdenken und Fortfühlen des anthroposophischen Inhaltes ist auch Seelenübung. Man lebt sich in die geistige Welt schauend hinein, wenn man so, wie es hier gesagt ist, mit diesem Inhalt verfährt.
Es wird eben doch in der Anthroposophischen Gesellschaft viel zu wenig darauf gesehen, dass Anthroposophie nicht graue |85 Theorie, sondern wahres Leben sein soll. Wahres Leben, das ist ihr Wesen; und wird sie zur grauen Theorie gemacht, dann ist sie oft gar nicht eine bessere, sondern eine schlechtere Theorie als andere. Aber sie wird eben erst Theorie, wenn man sie dazu macht, wenn man sie tötet. Das wird noch viel zu wenig gesehen, dass Anthroposophie nicht nur eine andere Weltanschauung ist als andere, sondern dass sie auch anders aufgenommen werden muss. Man erkennt und erlebt ihr Wesen erst in dieser anderen Art des Aufnehmens.
Das Goetheanum sollte als der notwendige Mittelpunkt des anthroposophischen Arbeitens und Wirkens angesehen werden; aber man sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass in den Zweigen der anthroposophische Stoff, der erarbeitet worden ist, auch zur Geltung komme. Was am Goetheanum gewirkt wird, das kann im vollen lebendigen Sinne die ganze Anthroposophische Gesellschaft nach und nach haben, wenn möglichst viele Mitglieder aus dem Leben der Zweige heraus an das Goetheanum selbst herankommen und, soviel ihnen möglich ist, an seinem lebendigen Wirken teilnehmen. Das alles aber muss mit Innerlichkeit gestaltet werden; mit dem äusserlichen »Mitteilen« des Inhaltes von jeder Woche geht es nicht. Der Vorstand am Goetheanum wird Zeit brauchen und bei den Mitgliedern Verständnis finden müssen. Dann wird er im Sinne der Weihnachtstagung wirken können. |86
Weitere Leitsätze
76. Will man eine Vorstellung der ersten Hierarchie (Seraphim, Cherubim und Throne) hervorrufen, so wird man darnach suchen müssen, Bilder zu gestalten, in denen Geistiges (nur übersinnlich Schaubares) in den Formen sich wirkend offenbart, die in der Sinnenwelt zur Erscheinung kommen. Geistiges in sinnenfälliger Bildlichkeit muss Inhalt der Gedanken über die erste Hierarchie sein.
77. Will man eine Vorstellung der zweiten Hierarchie (Kyriotetes, Dynameis, Exusiai) hervorrufen, so wird man darnach suchen müssen, Bilder zu gestalten, in denen Geistiges nicht in sinnenfälligen Formen, sondern auf rein geistige Art sich offenbart. Geistiges in nicht sinnenfälliger, sondern rein geistiger Bildlichkeit muss der Inhalt der Gedanken über die zweite Hierarchie sein.
78. Will man eine Vorstellung der dritten Hierarchie (Archai, Archangeloi, Angeloi) hervorrufen, so wird man darnach suchen müssen, Bilder zu gestalten, in denen Geistiges nicht in sinnenfälligen Formen, aber auch nicht auf rein geistige Art, sondern so sich offenbart, wie Denken, Fühlen und Wollen in der menschlichen Seele sich darleben. Geistiges in seelenhafter Bildlichkeit muss der Inhalt der Gedanken über eine dritte Hierarchie sein. |87
XXXI
Im Anbruch des Michael-Zeitalters
AL, 87-91
Bis zum neunten Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha stand der Mensch anders zu seinen Gedanken als später. Er hatte nicht die Empfindung, dass er die in seiner Seele lebenden Gedanken selbst hervorbringe. Er betrachtete sie als Eingebungen einer geistigen Welt. Auch wenn er über das Gedanken hatte, was er mit seinen Sinnen wahrnahm, waren ihm die Gedanken Offenbarungen des Göttlichen, das aus den Sinnesdingen zu ihm sprach.
Wer geistige Schauungen hat, begreift diese Empfindung. Denn, wenn ein geistig Wirkliches sich der Seele mitteilt, so hat man niemals das Gefühl, da ist die geistige Wahrnehmung, und man formt selber den Gedanken, um die Wahrnehmung zu begreifen; sondern man schaut den Gedanken, der in der Wahrnehmung enthalten und mit ihr gegeben ist, so objektiv wie sie selbst.
Mit dem neunten Jahrhundert ‒ selbstverständlich sind solche Angaben so zu nehmen, dass sie eine mittlere Zeitangabe bilden; der Uebergang geschieht ganz allmählich ‒ leuchtete in den Menschenseelen die persönlich-individuelle Intelligenz auf. Der Mensch bekam das Gefühl: ich bilde die Gedanken. Und dieses Bilden der Gedanken wurde das Ueberragende im Seelenleben, so dass die Denkenden das Wesen der Menschenseele im intelligenten Verhalten sahen. Vorher hatte man von der Seele eine imaginative Vorstellung. Man sah ihr Wesen nicht im Gedankenbilden, sondern in ihrem Teilhaben an dem geistigen Inhalt der Welt. Die übersinnlichen geistigen Wesen dachte |88 man denkend; und sie wirken in den Menschen hinein; sie denken auch in ihn hinein. Was so von der übersinnlichen geistigen Welt im Menschen lebt, das empfand man als Seele.
Sobald man in die geistige Welt mit seiner Anschauung hinaufdringt, kommt man an konkrete geistige Wesensmächte heran. In alten Lehren hat man die Macht, aus der die Gedanken der Dinge erfliessen, mit dem Namen Michael bezeichnet. Der Name kann beibehalten werden. Dann kann man sagen: die Menschen empfingen einst von Michael die Gedanken. Michael verwaltete die kosmische Intelligenz. Vom neunten Jahrhundert an verspürten die Menschen nicht mehr, dass ihnen Michael die Gedanken inspiriert. Sie waren seiner Herrschaft entfallen; sie fielen aus der geistigen Welt in die individuellen Menschenseelen.
Innerhalb der Menschheit wurde nunmehr das Gedankenleben ausgebildet. Man war zunächst unsicher, was man an den Gedanken hatte. Diese Unsicherheit lebte in den scholastischen Lehren. Die Scholastiker zerfielen in Realisten und Nominalisten. Die Realisten ‒ deren Führer Thomas von Aquino und die ihm Nahestehenden waren ‒ fühlten noch die alte Zusammengehörigkeit von Gedanke und Ding. Sie sahen daher in den Gedanken ein Wirkliches, das in den Dingen lebt. Die Gedanken des Menschen sahen sie als etwas an, das als Wirklichkeit aus den Dingen in die Seele hinüberfliesst. ‒ Die Nominalisten fühlten stark den Tatbestand, dass die Seele ihre Gedanken bildet. Sie empfanden die Gedanken nur als Subjektives, das in der Seele lebt, und das mit den Dingen nichts zu tun hat. Sie meinten: die Gedanken seien nur vom Menschen gebildete Namen für die Dinge. (Man sprach nicht von »Gedanken«, sondern von »Universalien«; aber das kommt für das Prinzipielle |89 der Anschauung nicht in Betracht, da Gedanken ja immer etwas Universelles im Verhältnis zu den einzelnen Dingen haben.)
Man kann sagen: Die Realisten wollten Michael die Treue bewahren; auch da die Gedanken aus seinem Bereich in den der Menschen gefallen waren, wollten sie als Denker dem Michael dienen als dem Fürsten der Intelligenz des Kosmos. ‒ Die Nominalisten vollzogen in ihrem unbewussten Seelenteil den Abfall von Michael. Sie betrachteten nicht Michael, sondern den Menschen als den Eigentümer der Gedanken.
Der Nominalismus gewann an Verbreitung und Einfluss. ‒ Das konnte so fortgehen bis in das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. In diesem Zeitalter empfanden diejenigen Menschen, die sich auf die Wahrnehmung der geistigen Geschehnisse innerhalb des Weltalls verstehen, dass Michael dem Strom des intellektuellen Lebens nachgezogen war. Er sucht nach einer neuen Metamorphose seiner kosmischen Aufgabe. Er liess vorher von der geistigen Aussenwelt her die Gedanken in die Seelen der Menschen strömen; vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts an will er in den Menschenseelen leben, in denen die Gedanken gebildet werden. Vorher sahen die Michael verwandten Menschen Michael im Geistbereich seine Tätigkeit entfalten; jetzt erkennen sie, dass sie Michael im Herzen wohnen lassen sollen; jetzt weihen sie ihm ihr gedankengetragenes geistiges Leben; jetzt lassen sie sich im freien, individuellen Gedankenleben von Michael darüber belehren, welches die rechten Wege der Seele sind.
Menschen, die im vorangehenden Erdenleben in inspiriertem Gedankenwesen gestanden haben, also Michaeldiener waren, fühlten sich, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder ins Erdenleben gekommen, zu solcher freiwilligen Michaelgemeinschaft |90 gedrängt. Sie betrachteten ihren alten Gedankeninspirator nunmehr als den Weiser im höheren Gedankenwesen.
Wer auf solche Dinge zu achten versteht, der konnte wissen, welch ein Umschwung im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sich mit Bezug auf das Gedankenleben der Menschen vollzogen hat. Vorher konnte der Mensch nur fühlen, wie aus seinem Wesen heraus die Gedanken sich formten; von dem angedeuteten Zeitabschnitt an kann er sich über sein Wesen erheben; er kann den Sinn ins Geistige lenken; da tritt ihm Michael entgegen, und der erweist sich als altverwandt mit allem Gedankenweben. Der befreit die Gedanken aus dem Bereich des Kopfes; er macht ihnen den Weg zum Herzen frei; er löst die Begeisterung aus dem Gemüte los, so dass der Mensch in seelischer Hingabe leben kann an alles, was sich im Gedankenlicht erfahren lässt. Das Michaelzeitalter ist angebrochen. Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben; die Begeisterung entströmt nicht mehr bloss mystischem Dunkel, sondern gedankengetragener Seelenklarheit. Dies verstehen, heisst, Michael in sein Gemüt aufnehmen. Gedanken, die heute nach dem Erfassen des Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls schlagen. |91
Weitere Leitsätze,
die vom Goetheanum ausgegeben [werden].
79. An die dritte Hierarchie (Archai, Archangeloi, Angeloi) kann man geistig herantreten, wenn man Denken, Fühlen und Wollen so kennen lernt, dass man in ihnen das in der Seele wirkende Geistige gewahr wird. Das Denken stellt zunächst nur Bilder, nicht ein Wirkliches in die Welt. Das Fühlen webt in diesem Bildhaften; es spricht für ein Wirkliches im Menschen, kann es aber nicht ausleben. Das Wollen entfaltet eine Wirklichkeit, die den Leib voraussetzt, aber an seiner Gestaltung nicht bewusst mitwirkt. Das Wesenhafte, das im Denken lebt, um den Leib zur Grundlage dieses Denkens zu machen; das Wesenhafte, das im Fühlen lebt, um den Leib zum Mit-Erleber einer Wirklichkeit zu machen; das Wesenhafte, das im Wollen lebt, um an seiner Gestaltung bewusst mitzuwirken, ist in der dritten Hierarchie lebendig.
80. An die zweite Hierarchie (Exusiai, Dynameis, Kyriotetes) kann man geistig herantreten, wenn man die Naturtatsachen als Erscheinungen eines in ihnen lebenden Geistigen erschaut. Die zweite Hierarchie hat dann die Natur zu ihrem Aufenthalt, um in ihr an den Seelen zu wirken.
81. An die erste Hierarchie (Seraphim, Cherubim, Throne) kann man geistig herantreten, wenn man die im Natur- und Menschenreich vorhandenen Tatsachen als die Taten (Schöpfungen) eines in ihnen wirkenden Geistigen erschaut. Die erste Hierarchie hat dann das Natur- und Menschenreich zu ihrer Wirkung, in der sie sich entfaltet. |92
XXXII
Unsere Sommerkurse in Torquai
AL, XXXII
In Torquai, an der südwestlichen englischen Küste, haben diesmal die Freunde der anthroposophischen Bewegung in England die Sommerkurse veranstaltet. Mr. Dunlop, der feinfühlige, nach weiten Zielen schauende Anthroposoph, und Mrs. Merry, die unermüdlich Tätige und der Bewegung liebevoll Ergebene, haben sich, im Verein mit den andern Freunden der grossen Arbeit unterzogen, diese Kurse zu ermöglichen.
Die Arbeit besteht in einem fortlaufenden Kurse für Mitglieder und Freunde der Anthroposophie, den ich an den Vormittagen halte und für den das Thema gewünscht worden ist: »Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung«; in einem Kursus für die Lehrkräfte der in der Begründung begriffenen, im anthroposophischen Geiste gehaltenen Schule, der in den ersten Nachmittagsstunden stattfindet; in fünf Eurhythmie-Aufführungen, die von Marie Steiner geleitet werden und bei denen diese auch die Rezitation leistet; in Mitglieder-Vorträgen und Klassenstunden; ferner in Vorträgen Dr. v. Baravalle’s.
Vom Vorstande am Goetheanum sind ausser mir der Schriftführer Dr. Ita Wegman, Marie Steiner, Dr. L. Vreede und Dr. Wachsmuth anwesend. Der Präsident der englischen Anthroposophischen Gesellschaft, Mr. H. Collison, und die meisten Vorstandsmitglieder sind anwesend.
Die Übersetzung meiner in deutscher Sprache gehaltenen Vorträge leistet in der aufopferndsten Art Mr. Kaufmann.
Wir stehen, da ich dieses schreibe, mitten in dem Kurse darinnen; 6 Vormittagsvorträge, 6 pädagogische Vorträge, 2 Mitgliedervorträge, 2 Eurhythmieaufführungen, 1 Vortrag Dr. v. Baravalle’s haben bereits stattgefunden.
In den Vormittagsvorträgen setze ich mir zur Aufgabe, die Wege der menschlichen Seele zu den verschiedenen Bewusstseinszuständen zu zeigen, durch die sich dem Menschen die dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgenen Weltgebiete offenbaren. Zunächst habe ich dargestellt, welche Veränderungen die Bewusstseinsverfassung des Menschen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung durchgemacht hat. Ich habe dazu zwei Beispiele gewählt: die alten Chaldäer und die Lehrer der Schule von Châtres im Mittelalter. Bei den Chaldäern ist ein Anschauen vorhanden, das an den Sinnesoffenbarungen auch noch das Geistige mit-wahrnimmt. Bei ihnen ist noch nicht das gedankengetragene Wachbewusstsein vorhanden, das die heutige Menschheit hat, sondern ein solches, das in Bildern Sinnliches und Geistiges wachend zusammenschaut; dafür aber bleibt ihnen auch der traumlose Schlaf nicht erinnerungslos; sie besinnen sich auf denselben und nehmen dadurch das Geistige wahr, dem der Mensch vor der Geburt und nach dem Tode angehört. Die Lehrer von Châtres sprechen aus ihrem Bewusstsein heraus, das sie zwar nicht mehr voll entwickelt, aber dem Inhalte nach traditionell überliefert haben, von der »Natur« nicht wie der gegenwärtige Mensch als einer blossen Summe von Naturgesetzen, sondern wie von einem lebendigen Wesen, das im lebendigen Tun die Erscheinungen der Natur hervorbringt.
Die Anschauung dieses lebendigen Wesens, die der Mensch einstens besessen hat, ist damit verloren gegangen, dass die Erinnerungsfähigkeit an die Erlebnisse des traumlosen Schlafes erloschen ist. Ich ging dann dazu über, zu zeigen, wie der Mensch die verschiedenen Bewusstseinszustände in sich erzeugt, wie er dadurch zu der Erkenntnis dessen kommt, was geistig hinter dem Menschen-, dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreiche waltet. Ich schilderte die geistige Wesenhaftigkeit einzelner Metalle und deren Beziehung zu dem sich zur geistigen Anschauung entwickelnden, sowie auch zu dem kranken Menschen. Ich stellte ferner dar, wie der Bewusstseinszustand ist, der das Leben des Menschen über den Tod hinaus verfolgen kann. Auch stellte ich den Zuhörern vor Augen, wie gewisse Bewusstseinszustände, die entwickelt werden können, dem Menschen ermöglichen, sein geistiges Gesichtsfeld von der Erde hinweg in den Kosmos, zu den Sternensphären zu erweitern.
So versuche ich die Grundlage dafür zu gewinnen, die rechten Wege zur Erkenntnis der geistigen Welt zu zeigen, um dann weitergehend die Abirrungen auf unrichtige Bahnen anschaulich machen zu können.
In den pädagogischen Vorträgen bemühe ich mich, den Lehrkräften der hier in England nach dem Muster der Waldorfschule zu gründenden Primarschule eine Art Seminarkurs zu geben. Die für den Lehrenden und Erziehenden notwendige Gesinnung, die für die Ausübung der pädagogischen Kunst unerlässliche Seelenverfassung versuche ich zu beleuchten. Methodische Anweisungen für die einzelnen Erziehungsgebiete und Unterrichtsfächer versuche ich zu geben. Alles ist auf die Darstellung einer in wahrer Menschen-Erkenntnis gegründeten Lehrpraxis hin orientiert.
In den Eurhythmie-Aufführungen hat Marie Steiner internationale Programme für die eurhythmische Darstellung von Dichtungen und vielseitige Musik-Eurhythmisierungen zusammengestellt, die das Wesen der eurhythmischen Kunst allseitig zur Vorführung bringen. Die englische, französische und deutsche Rezitation wird von Marie Steiner besorgt.
In den zwei Aufführungen, die wir gehabt haben, herrschte eine herzliche und erfreuende Stimmung. Man hat das Gefühl, die Eurhythmie dringt allmählich zu den Herzen der kunstempfänglichen Menschen vor. Ich bin froh darüber, dass die unter Marie Steiners Leitung stehende Eurhythmietruppe, die am Goetheanum ihren künstlerischen Mittelpunkt hat, wird ‒ nach den zwei bisher stattgehabten Vorstellungen ist das zu schliessen ‒ mit den befriedigendsten Gefühlen an die so herzlich begeisterte Aufnahme ihrer Leistungen zurückdenken können.
In den Mitgliedervorträgen sprach ich über die Art, wie Menschen, indem sie durch wiederholte Erdenleben gehen, die Ergebnisse der einen Geschichtsepoche in die andere hinübertragen. Ich zeigte, wie es durch solches Hinübertragen erklärlich wird, dass in unserer gegenwärtigen Zivilisation so verschiedenartige Geistesrichtungen sich offenbaren.
Die Träger dieser Geistesrichtungen tragen eben aus ihren vorigen Erdenleben die mannigfaltigsten Ergebnisse in sich, und diese wirken sich in ihnen karmisch aus. So kann man durch geisteswissenschaftliche Forschung erkennen, wie Bacon v. Verulam ausserchristliche, im Mohammedanismus und Arabismus wurzelnde Ideen-Impulse aus früheren Erdenleben in das hingetragen hat, in dem er Bacon war.
Die Art, wie wir über den bisherigen Verlauf dieser Sommerkurs-Veranstaltung empfinden dürfen, die gute Stimmung, die herrscht, lassen hoffen, dass auch der weitere Fortgang in der schönsten Weise sich gestalten werde.
Weitere Leitsätze
für die Anthroposophische Gesellschaft
AL, 92
82. Der Mensch blickt zu den Sternenwelten auf; was sich da den Sinnen darbietet, sind nur die äusseren Offenbarungen derjenigen Geistwesenheiten und ihrer Taten, von denen in den vorigen Betrachtungenals den Wesen der geistigen Reiche (Hierarchien) gesprochen worden ist.
83. Die Erde ist der Schauplatz der drei Naturreiche und des Menschenreiches, insofern diese den äusseren Sinnenschein von der Tätigkeit geistiger Wesenheiten offenbaren.
84. Die Kräfte, welche in die irdischen Naturreiche und in das Menschenreich von Seiten geistiger Wesen hineinwirken, enthüllen sich dem Menschengeiste durch die wahre, die geistgemässe Erkenntnis der Gestirnwelten. |93
XXXIII
Die menschliche Seelenverfassung vor dem
Anbruch des Michael-Zeitalters
AL, 93-96
Heute soll eine Betrachtung hier eingefügt werden, die sich an die Ideen »Im Anbruch des Michael-Zeitalters« anschliesst. Dieses Michael-Zeitalter ist in der Entwicklung der Menschheit heraufgekommen nach dem Vorherrschen der intellektuellen Gedankenbildung auf der einen Seite, und der auf die äussere Sinnenwelt ‒ die physische Welt ‒ gerichteten menschlichen Anschauungsweise auf der andern.
Die Gedankenbildung ist in ihrer eigenen Wesenheit nicht eine Entwicklung nach dem Materialistischen hin. Dasjenige, was in ältern Zeitaltern wie inspiriert an den Menschen herantrat, die Ideenwelt, wurde in der Zeit, die der Michael-Epoche voranging, Eigentum der menschlichen Seele. Diese empfängt nicht mehr die Ideen »von oben« aus dem geistigen Inhalt des Kosmos; sie holt sie aktiv aus der eigenen Geistigkeit des Menschen herauf. Damit ist der Mensch erst reif geworden, sich auf die eigene geistige Wesenheit zu besinnen. Vorher drang er bis zu dieser Tiefe des eigenen Wesens nicht vor. Er sah in sich gewissermassen den Tropfen, der aus dem Meere der kosmischen Geistigkeit sich für das Erdenleben abgetrennt hat, um sich nach demselben wieder mit ihm zu vereinigen.
Es ist die im Menschen stattfindende Gedankenbildung ein Fortschritt in der menschlichen Selbsterkenntnis. Im Uebersinnlichen angeschaut, stellt sich die Sache so dar: die geistigen Mächte, die man mit dem Michael-Namen bezeichnen kann, verwalteten im geistigen Kosmos die Ideen. Der Mensch erlebte diese Ideen, indem er mit seiner Seele an dem Leben der Michael-Welt teilnahm. Dieses Erleben ist nun sein eigenes geworden. Dadurch ist eine zeitweilige Trennung des Menschen von der Michael-Welt eingetreten. Mit den inspirierten |94 Gedanken der Vorzeit empfing der Mensch zugleich die geistigen Weltinhalte. Indem diese Inspiration aufhörte, und der Mensch in eigener Tätigkeit die Gedanken bildet, ist er auf die Anschauung der Sinne verwiesen, um für diese Gedanken einen Inhalt zu haben. So musste der Mensch zunächst die errungene eigene Geistigkeit mit materiellem Inhalt erfüllen. Er fiel in die materialistische Anschauung in dem Zeitalter, das sein eigenes geistiges Wesen auf eine Stufe brachte, die höher ist als die vorangehenden.
Das kann leicht verkannt werden; man kann den »Fall« in den Materialismus nur allein beachten, und dann über ihn traurig sein. Aber während das Anschauen dieses Zeitalters sich auf die äussere physische Welt beschränken musste, entfaltete sich im Innern der Seele eine gereinigte, in sich selbst bestehende Geistigkeit des Menschen als Erleben. Diese Geistigkeit muss nun im Michael-Zeitalter nicht mehr unbewusstes Erleben bleiben, sondern sich ihrer Eigenart bewusst werden. Das bedeutet den Eintritt der Michael-Wesenheit in die menschliche Seele. Der Mensch hat eine gewisse Zeit hindurch das eigene Geistige mit dem Materiellen der Natur erfüllt; er soll es wieder mit ureigener Geistigkeit als kosmischen Inhalt erfüllen.
Die Gedankenbildung verlor sich eine Weile an die Materie des Kosmos; sie muss sich in dem kosmischen Geiste wieder finden. In die kalte, abstrakte Gedankenwelt kann Wärme, kann wesenserfüllte Geist-Wirklichkeit eintreten. Das stellt den Anbruch des Michael-Zeitalters dar.
Nur in der Trennung von dem Gedankenwesen der Welt konnte in den Tiefen der menschlichen Seele das Bewusstsein der Freiheit erwachsen. Was von den Höhen kam, musste |95 den Tiefen wiedergefunden werden. Deshalb ist die Entwicklung dieses Bewusstseins der Freiheit zunächst mit einer nur auf das Aeussere gerichteten Naturerkenntnis verbunden gewesen. Während der Mensch im Innern seinen Geist unbewusst zur Reinheit der Ideen erbildete, waren seine Sinne nach Aussen nur auf das Materielle gerichtet, das in keiner Weise störend in das eingriff, was zunächst als zarter Keim in der Seele aufleuchtete.
Aber es kann in die Anschauung des äusseren Materiellen das Erleben des Geistigen und damit die geistige Anschauung in neuer Art wieder einziehen. Was im Zeichen des Materialismus an Naturerkenntnis gewonnen worden ist, kann in geistgemässer Art im inneren Seelenleben erfasst werden. Michael, der »von oben« gesprochen hat, kann »aus dem Innern«, wo er seinen neuen Wohnsitz aufschlagen wird, gehört werden. Mehr imaginativ gesprochen, kann dies so ausgedrückt werden: Das Sonnenhafte, das der Mensch durch lange Zeiten nur aus dem Kosmos in sich aufnahm, wird im Innern der Seele leuchtend werden. Der Mensch wird von einer »innern Sonne« sprechen lernen. Er wird sich deshalb in seinem Leben zwischen Geburt und Tod nicht weniger als Erdenwesen wissen; aber er wird das auf der Erde wandelnde eigene Wesen als sonnengeführt erkennen. Er wird als Wahrheit empfinden lernen, dass ihn im Innern eine Wesenheit in ein Licht stellt, das zwar auf das Erdendasein leuchtet, aber nicht in diesem entzündet wird. Im Anbruche des Michael-Zeitalters mag es noch scheinen, als ob dies alles der Menschheit recht ferne liegen könne; doch es ist »im Geiste« nahe; es muss nur »gesehen« werden. Von dieser Tatsache, dass die Ideen des Menschen nicht nur »denkend« bleiben, sondern im Denken »sehend« werden, hängt unermesslich viel ab. |96
Weitere, vom Goetheanum ausgegebene Leitsätze.
85. Im wachen Tagesbewusstsein erlebt sich im gegenwärtigen Weltenalter zunächst der Mensch. Dieses Erleben verhüllt ihm, dass innerhalb der Wachheit die dritte Hierarchie in seinem Erleben gegenwärtig ist.
86. Im Traumbewusstsein erlebt der Mensch in chaotischer Art das eigene Wesen mit dem Geistwesen der Welt unharmonisch vereinigt. Stellt sich dem Traumbewusstsein das imaginative als dessen anderer Pol gegenüber, so wird der Mensch gewahr, dass die zweite Hierarchie in seinem Erleben gegenwärtig ist.
87. Im traumlosen Schlafbewusstsein erlebt der Mensch ohne eigene Bewusstheit das eigene Wesen mit dem Geistwesen der Welt vereinigt. Stellt sich dem Schlafbewusstsein das inspirierte, als dessen anderer Pol gegenüber, so wird der Mensch gewahr, dass die erste Hierarchie in seinem Erleben gegenwärtig ist. |97
Briefe an die Mitglieder -
Anthroposophische Leitsätze