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Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:

GE   EG   WW   PF   FN   GW   HG   RP   MA   CM   TH   AN   WE   SE   FK   AC   GU  

PdE   PdS   HdS   DSE   WS   SW   GF   GK   VM  VS  GG  KS   AD   DS   SL   AL   EH   ML

XVI

Die Osterveranstaltung am Goetheanum

AL, XVI

An die Veranstaltung in Bern schloss sich unmittelbar diejenige, die am Goetheanum selbst stattfand. Mein Thema war: Das Osterfest, ein Stück Mysteriengeschichte. Ich versuchte zu zeigen, wie die Wurzeln des Osterfestes in den Mysterien liegen. Wie, durch die Mysterien veranlasst, in alten Zeiten Feste gefeiert wurden, bei denen das Bildnis des Gottes der Lebenskraft und der Schönheit unter Traueräusserungen in das Meer ‒ oder in anderer Art ‒ versenkt und nach ungefähr drei Tagen wieder an das Tageslicht, unter Freudenstimmung, gezogen wurde. Solche Feste stellten nicht etwas abseits vom Menschenwesen Liegendes im Sinnbild dar, sondern sie brachten vor den Teilnehmern die Tatsache zur Darstellung, dass der Mensch, nachdem er durch die Pforte des Todes gegangen ist, nach wenigen Tagen ein neues ‒ geistiges ‒ Leben beginnt. Es war die Kultuszeremonie dazu bestimmt, dem Menschen vor das sinnliche Auge zu stellen, was er übersinnlich unmittelbar nach dem Tode erlebt. In den ältesten Zeiten hatte dieses Dargestellte noch nicht einen Bezug auf die wiedererwachende Natur im Frühling. Es war lediglich etwas dargestellt, was der Mensch als über die Natur hinausragendes Wesen erlebt.

Erst später, als die in einem älteren instinktiven geistigen Schauen vorhandenen Vorstellungen verblasst waren, vollzog sich die Anlehnung an das Naturgeschehen. Man sah in die materiellen Vorgänge, die sich in dem Auferstehen des Lebens im Frühling abspielen, um in ihnen Bilder zu haben für die Auferstehung des geistigen Menschen nach dem physischen Tode.

Durch das Mysterium von Golgatha ist geschichtliches Ereignis geworden, was vorher nur im Bilde vor der menschlichen Wahrnehmung gezeigt werden konnte. Mit diesem Bilde ist der Blick der Menschen in den Kosmos, also in den Raum gelenkt worden. Und hinter dieser Hinlenkung standen die Erlebnisse der Initiierten in den Mysterien. Diese machten durch an geistigen Übungen, was ihre Seele befähigte, in die geistige Welt zu schauen. In diejenige geistige Welt, für die Sterne und Sternbewegungen die äussere Offenbarung sind. Da wurden sie gewahr, wie die Gestaltung derjenigen Wesenheit im Menschen, die dieser mit der Geburt ‒ oder Empfängnis ‒ in das physische Erdendasein trägt, unter dem Einflüsse der Kräfte steht, die den geistigen Teil des Mondes bilden. Aber sie erkannten auch, wie der geistige Teil der Sonne während des Erdenlebens so in den Menschen eingreift, dass dieser das in der Geburt Gestaltete umwandeln kann. Sie fühlten sich durch ihre Initiation mit der Seele auf die Sonne versetzt.

Was sie so durch dieses Versetzen auf die Sonne gewannen, das konnten die Menschen seit dem Mysterium von Golgatha durch die Hinlenkung des Seelenblickes auf dieses Mysterium gewinnen. Vorher wurde dieser Blick in den räumlichen Kosmos gelenkt; seit der Begründung des Christentums tritt die Zeit an die Stelle des Raumes. Der Seelenblick kann hingelenkt werden auf dasjenige, was auf Golgatha geschehen ist. Was man vorher ausserhalb der Erde suchen musste, konnte man nun im Erdgeschehen selbst finden. Die alten Mysterien verlieren ihren Sonnenglanz vor dem strahlenden Gestirn von Golgatha. Sie finden in demselben ihre Erfüllung.

In das weltgeschichtliche Schicksal der alten Mysterien schauen, heisst dem Osterfeste, das für den gegenwärtigen Menschen deren Untergang und neuen Aufgang darstellen kann, den Sinn des Osterfestes vertiefen. Indem die Anthroposophie diese Vertiefung anstrebt, wird sie selbst von dem Gedanken der Auferstehung durchdrungen, ist sie eine Botschaft von dieser Auferstehung. Als solche wird sie aus einer Ideensache zu einer Herzenssache. So wollte die Oster-Veranstaltung des Goetheanums den Impuls der Weihnachtstagung zur weiteren Entwicklung bringen.

Wir hatten die grosse Befriedigung, dass trotz der Ungunst der Zeitverhältnisse diese Veranstaltung zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft am Goetheanum vereinigen konnte. Möge sich daran die weitere Befriedigung schliessen, die davon wird kommen können, dass die Besucher unserer Osterfeier das am Goetheanum damit Gewollte in die heimatlichen Zweige der Anthroposophischen Gesellschaft tragen. Es wird dadurch der einheitliche Geist in die Gesellschaft kommen, den diese braucht und den die Weihnachtstagung in den Herzen der Mitglieder anregen wollte.

 

Weitere Leitsätze

 

AL, 43-44
 

32. In dem Haupte des Menschen ist die physische Organisation ein Abdruck der geistigen Individualität. Physischer und ätherischer Teil des Hauptes stehen als abgeschlossene Bilder des Geistigen, und neben ihnen in selbständiger seelisch-geistiger Wesenheit stehen der astralische und der Ichteil. Man hat es daher im Haupte des Menschen mit einer Nebeneinanderentwicklung des relativ selbständigen Physischen und Aetherischen einerseits, des Astralischen und der Ich-Organisation anderseits zu tun. |44

33. In dem Gliedmassen-Stoffwechselteil des Menschen sind die vier Glieder der Menschenwesenheit innig miteinander verbunden. Ich-Organisation und astralischer Leib sind nicht neben dem physischen und ätherischen Teil. Sie sind in diesen; sie beleben sie, wirken in ihrem Wachstum, in ihrer Bewegungsfähigkeit und so weiter. Dadurch aber ist der Gliedmassen-Stoffwechselteil wie ein Keim, der sich weiter entwickeln will, der fortwährend darnach strebt, Haupt zu werden, und der fortwährend davon während des Erdenlebens des Menschen zurückgehalten wird.

34. Die rhythmische Organisation steht in der Mitte. Hier verbinden sich Ich-Organisation und Astralleib abwechselnd mit dem physischen und ätherischen Teil und lösen sich wieder von diesen. Atmung und Blutzirkulation sind der physische Abdruck dieser Vereinigung und Loslösung. Der Einatmungsvorgang bildet die Verbindung ab; der Ausatmungsvorgang die Loslösung. Die Vorgänge im Arterienblut stellen die Verbindung dar; die Vorgänge im Venenblute die Loslösung.

 

XVII

Totenfeiern

AL, XVII

Von dem Hinscheiden treuer Mitarbeiter der anthroposophischen Bewegung musste ich am 3. Mai am Goetheanum sprechen. Frau Ferreri, die langjährige Leiterin des Zweiges in Mailand ist vor kurzem gestorben. Ihre Seele war ganz hingegeben den Geist-Erkenntnissen, die durch die Anthroposophie an den Menschen herantreten. Mit einer vollkommenen, empfindenden Sicherheit lebte ihr allem Edlen zugewandtes Innere in den Wahrheiten dieser Erkenntnis. Oft durften wir Frau Ferreri als eine liebe Besucherin an den Orten sehen, an denen anthroposophische Veranstaltungen waren. Das Goetheanum konnte bei allen wichtigeren Gelegenheiten Frau Ferreri als Teilnehmerin an solchen Veranstaltungen begrüssen. ‒ Für alles, was innerhalb der Bewegung opfervoller Hingabe bedurfte, war sie mit vollem Herzen dabei. Vieles hat nur geschehen können, weil sie diesen schönen Opfersinn entfaltete. Seit lange war sie leidend; doch die Bürde der Krankheit ihres physischen Leibes hemmte nicht den Aufschwung ihres Geistes. Das Leiden, das sie aus dem physischen Dasein hinwegführte, veranlasste sie an die Leiterin des klinisch-therapeutischen Institutes, Frau Dr. Ita Wegmann, wenige Tage vor ihrem Hinscheiden die Worte gelangen zu lassen: sie müsse in dieses Institut kommen, denn nur da, in dem Umkreis des Goetheanums, könne sie die Kraft zur Erholung wieder finden. Sie konnte die Reise nicht mehr machen. ‒ In der Goethezeit nannte man Menschen, die in ihrem Leben das Geistige in unmittelbarer Gemütsoffenbarung auf edle Art darstellen, »schöne Seelen«. Frau Ferreri darf in diesem Sinne als eine »schöne Seele« bezeichnet werden. Für die anthroposophische Lebensansicht hat sie in ihrem stillen, treuen Wirken unbegrenzt viel getan. Die Arbeit in Mailand war ganz von ihrem Wirken beseelt. Der Zweig in Honolulu war ihr Werk, und er fand an ihr die liebevollste Pflegerin. Frau Ferreri wird in der anthroposophischen Bewegung fortleben als Seele, die sich in vorbildlicher Art mit ihr verbunden hat.

 

II.

Am 1. Mai hat uns der Tod die treue Mitarbeiterin am Goetheanum und innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft Edith Maryon aus der physischen Welt hinweggenommen. Ein seit Jahren in restlosem Opfersinn mit uns arbeitender Mensch ist uns in der Dahingegangenen für das physische Dasein entrissen.

Vor mehr als zehn Jahren kam Edith Maryon zu uns. Sie kam als eine Persönlichkeit, die schon in esoterischem Streben mit voller Seele darin stand. Ihr inneres Leben war ganz erfüllt von diesem Streben. In der anthroposophischen Bewegung suchte sie die weitere Entfaltung dieses Strebens. Mit entschiedener innerer Sicherheit verband sie sich mit dieser Bewegung. Sie versicherte später öfters, dass sie ihren Beitritt wie einen selbstverständlichen Schritt auf ihrem Lebenswege empfand.

Als wir das Goetheanum zu bauen begannen, war sie eine der ersten Persönlichkeiten, die ihre Kraft diesem Werke in liebevollster Hingabe schenkten. ‒ Sie war Bildhauerin. Eine in ihrer Art vollendete Künstlerin, die manches geleistet hatte, was Erfolg gehabt hat. Geistige Inhalte in gemessen-schönen Formen zum Ausdruck zu bringen, war ihr besonderes Feld. Das Technische ihrer Kunst beherrschte sie in vollendeter Weise.

Sie stellte dieses künstlerische Wirken ganz in den Dienst des Goetheanums. In der Arbeit für dieses ist sie in ihrem letzten Lebens Jahrzehnt ganz aufgegangen. Sie verstand den Sinn, in dem dieses Aufgehen allein möglich ist. Die künstlerischen Impulse, die durch das Goetheanum gegeben werden sollen, können nur wirken, wenn ihnen kein künstlerischer Selbstsinn derer gegenübersteht, die mit echtem Können an die Arbeit gehen. Maryon machte diesen Selbstsinn niemals geltend. Ich musste die Impulse, die von anthroposophischer Art ausgehen, in die Arbeit strömen lassen. Dabei ist es oft schwierig, über Widersprüche hinwegzukommen, die sich ergeben, wenn das künstlerisch Gewohnte und das neu Gewollte zusammenstossen. Mit Maryon konnte ich bildhauerisch zusammen arbeiten, ohne dass dieses Zusammenstossen etwas bedeutete. Denn über allem, was sich an künstlerischen Meinungen ergeben konnte, stand vor ihr die frei empfundene Notwendigkeit, dass die Arbeit zustande kommen müsse. Und getragen von einer solchen Empfindung liess Maryon alles ihr künstlerisch Gewohnte in die neuen Impulse in stiller, energischer Art einströmen.

Mein Zusammenarbeiten mit ihr auf dem Gebiete der bildenden Kunst ward von einem deutlichen karmischen Symptom eingeleitet. Ich arbeitete, als die plastische Mittelpunktsgruppe für das Goetheanum noch im Anfange ihres Werdens war, in dem vorderen Bildhaueratelier mit ihr auf dem Gerüste, das um das grosse Plastelin-Modell errichtet war. Ich glitt durch einen Spalt im Gerüst in die Tiefe und hätte auf einen spitzen Pfeiler auffallen müssen, wenn Maryon meinen Fall nicht aufgefangen hätte. Wenn ich in den folgenden Jahren noch etwas leisten konnte für die anthroposophische Sache, so ist es, weil Maryon mich damals vor einer schweren Verletzung bewahrt hat.

Durchseelt war das künstlerische Wirken Maryons von ihrem Suchen nach der geistigen Entfaltung der Seele. Die esoterische Vertiefung war das selbstverständliche Lebenselement dieser Seele. Ernst in dieser Vertiefung war die Signatur ihres Inneren. Und sie stand vor mancher bedeutsamen Erfahrung auf dem Geistgebiet.

Dieser Ernst drückte sich auch in ihrem Äusseren aus. Ihr ganzes Wesen offenbarte einen Menschen, der von der Freude im Leben nicht verwöhnt, von manchem aber im Schicksalslauf schwer geprüft worden ist.

Zwei Eigenschaften waren Edith Maryon eigen, die ihr ganzes Wesen durchzogen. Eine Zuverlässigkeit im Reden und Arbeiten, die dem mit ihr Zusammenwirkenden das Gefühl voller Sicherheit gab; und ein praktischer Sinn, der im Arbeiten überall anzugreifen geneigt war, und dem das Vorgenommene gelingt, weil er die innere Beweglichkeit des Schaffens entfaltet. Für manchen Idealisten, dessen Absichten vor der Wirklichkeit stocken, könnte Maryons Art vorbildlich sein, deren schöner Idealismus stets den Widerstand der Wirklichkeit besiegte, weil bei ihr das Wünschen stets als Wollen sich erbildete.

Maryons Arbeit blieb nicht im Künstlerischen begrenzt. Sie wirkte in ihrer stillen Art an vielen Stellen der anthroposophischen Arbeit mit. Ihrem Wirken ist es zuzuschreiben, dass durch ihre Freundin, Prof. Mackenzie, zu Weihnacht 1921 sich eine grössere Anzahl Lehrer und Lehrerinnen aus England am Goetheanum einfanden, denen ich eine Reihe pädagogischer Vorträge halten durfte. Und in der Fortsetzung dieses ihres Wirkens liegen die Vorträge und eurhythmischen Aufführungen, die in Stratford und in Oxford stattfinden konnten. Von ihr gingen die Anregungen aus, die dazu führten, die eurhythmischen Bewegungsformen in bemalten Holzfiguren festzuhalten. Sie hat mit eigener Hand bis in die Zeit ihres Krankenlagers hinein diese Figuren gearbeitet.

Die Brandnacht, die uns das Goetheanum genommen hat, legte in ihren durch vorangegangene Krankheiten geschwächten Körper den Keim, der zu dem mehr als ein Jahr währenden Leiden sich entwickelte. Ende Januar 1923 ward Maryon auf das Krankenlager geworfen; nur in ganz kurzen Unterbrechungen im vorigen Sommer konnte sie dasselbe verlassen; seit dem Herbste 1923 nicht mehr. Sie hat, insbesondere in der letzten Zeit, Unsägliches gelitten. Die innere Energie ihres Lebens im Geiste verblieb ihr ungeschwächt auch auf dem Krankenlager. Sie hat auch so in regster Weise an allem teilgenommen, was am Goetheanum vorging. Der geistige Inhalt der Weihnachtstagung und der Klassenstunden der freien Hochschule des Goetheanums, die ihr gebracht werden konnten, bildeten auf dem Hintergrunde des schweren Leidens den Inhalt ihrer letzten Erden-Lebenswochen. Auf der Weihnachtstagung wurde sie zur Leitung der Sektion für bildende Kunst am Goetheanum bestimmt. Viele Gedanken wendete sie bis in ihre letzten Tage hinein dem Ziele zu, wie diese Sektion einmal in rechter Art zur Wirksamkeit kommen solle.

In bewundernswerter Sanftmut hat Maryon ihr schweres Leiden ertragen. In der Nacht vom 1. zum 2. Mai ist sie an der Seite der befreundeten, sie treu pflegenden Ärztin Dr. Ita Wegmann in der vollsten Gedankenklarheit durch die Pforte des Todes in die geistige Welt geführt worden.

Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft blicken der Dahingegangenen in vollster Dankbarkeit nach. Maryons Wirken für diese Gesellschaft wird stets als ein ernst-hingebungsvolles empfunden werden.

 

Weitere Leitsätze

AL, 44-45

35. Man versteht das physische Menschenwesen nur, wenn man es als Bild des Geistig-Seelischen betrachtet. Für sich genommen bleibt der physische Körper des Menschen unverständlich. Aber er ist in seinen verschiedenen Gliedern in verschiedener Art Bild des Geistig-Seelischen. Das Haupt ist dessen vollkommenstes, abgeschlossenes Sinnesbild. Alles, was dem Stoffwechsel- und Gliedmassen-System angehört, ist wie ein Bild, das noch nicht seine Endformen angenommen hat, sondern an dem erst gearbeitet wird. Alles, was zur rhythmischen Organisation des Menschen gehört, steht in bezug auf das Verhältnis des Geistig-Seelischen zum Körperlichen zwischen diesen Gegensätzen. |45

36. Wer von diesem geistigen Gesichtspunkte aus das menschliche Haupt betrachtet, hat an dieser Betrachtung eine Hilfe zum Verständnisse geistiger Imaginationen; denn in den Formen des Hauptes sind imaginative Formen gewissermassen bis zur physischen Dichte geronnen.

37. In derselben Art kann man an der Betrachtung des rhythmischen Teiles der Menschenorganisation eine Hilfe haben für das Verständnis von Inspirationen. Der physische Anblick der Lebensrhythmen trägt im Sinnesbilde den Charakter des Inspirierten. Im Stoffwechsel- und Gliedmassensystem hat man, wenn man diese in voller Aktion, in der Entfaltung ihrer notwendigen oder möglichen Verrichtungen betrachtet, ein sinnlich-übersinnliches Bild des rein übersinnlichen Intuitiven. |46

XVIII

Zu den vorangegangenen Leitsätzen

über die Bildnatur des Menschen

AL, 46-51

Es kommt viel darauf an, dass durch die Anthroposophie begriffen werde, wie die Vorstellungen, die der Mensch im Anblicke der äusseren Natur gewinnt, vor der Menschenbetrachtung Halt machen müssen. Gegen diese Forderung sündigt die Denkungsart, die durch die geistige Entwicklung der letzten Jahrhunderte in die Menschengemüter eingezogen ist. Durch sie gewöhnt man sich, Naturgesetze zu denken; und durch diese Naturgesetze erklärt man sich die Naturerscheinungen, die man mit den Sinnen wahrnimmt. Man sieht nun nach dem menschlichen Organismus hin und betrachtet auch diesen so, wie wenn seine Einrichtung begriffen werden könnte, wenn man die Naturgesetze auf ihn anwendet.

Das ist nun gerade so, als ob man das Bild, das ein Maler geschaffen hat, betrachtete nach der Substanz der Farben, nach der Kraft, mit der die Farben an der Leinwand haften, nach der Art, wie sich diese Farben auf die Leinwand streichen lassen, und nach ähnlichen Gesichtspunkten. Aber mit alledem trifft man nicht, was sich in dem Bilde offenbart. In dieser Offenbarung, die durch das Bild da ist, leben ganz andere Gesetzmässigkeiten als diejenigen, die aus den angegebenen Gesichtspunkten gewonnen werden können.

Es kommt nun darauf an, sich darüber klar zu werden, dass sich auch in der menschlichen Wesenheit etwas offenbart, das von den Gesichtspunkten, von denen aus die Gesetze der äusseren Natur gewonnen werden, nicht zu ergreifen ist. Hat man diese |47 Vorstellung in der rechten Art sich zu eigen gemacht, dann wird man in der Lage sein, den Menschen als Bild zu begreifen. Ein Mineral ist in diesem Sinne nicht Bild. Es offenbart nur dasjenige, was unmittelbar die Sinne wahrnehmen können.

Beim Bilde richtet sich die Anschauung gewissermassen durch das sinnlich Angeschaute hindurch auf einen Inhalt, der im Geiste erfasst wird. Und so ist es auch bei der Betrachtung des Menschenwesens. Erfasst man dieses in rechter Art mit den Naturgesetzen, so fühlt man sich im Vorstellen dieser Naturgesetze nicht dem wirklichen Menschen nahe, sondern nur demjenigen, durch das sich dieser wirkliche Mensch offenbart.

Man muss es im Geiste erleben, dass man mit den Naturgesetzen so vor dem Menschen steht, wie man vor einem Bilde stünde, wenn man nur wüsste, da ist Blau, da ist Rot, und man nicht imstande wäre, in einer inneren Seelentätigkeit das Blau und Rot auf etwas zu beziehen, das sich durch diese Farben offenbart.

Man muss eben eine andere Empfindung haben, wenn man mit den Naturgesetzen einem Mineralischen, und eine andere, wenn man dem Menschen gegenübersteht. Beim Mineralischen ist es für die geistige Auffassung so, als wenn man das Wahrgenommene unmittelbar ertastete; beim Menschen ist es so, als ob man ihm mit den Naturgesetzen so ferne stünde, wie man einem Bilde ferne steht, das man nicht mit Seelenaugen anblickt, sondern nur betastet.

Hat man erst in der Anschauung des Menschen begriffen, dass dieser Bild von etwas ist, dann wird man in der rechten Seelenstimmung auch zu dem fortschreiten, was sich in diesem Bilde darstellt. |48

Und im Menschen offenbart sich die Bildnatur nicht auf eine eindeutige Weise. Ein Sinnesorgan ist in seinem Wesen am wenigsten Bild, am meisten eine Art Offenbarung seiner selbst wie das Mineral. Man kann gerade an die Sinnesorgane mit den Naturgesetzen am nächsten heran. Man betrachte nur die wundervolle Einrichtung des menschlichen Auges. Man erfasst durch Naturgesetze annähernd diese Einrichtung. Und bei den andern Sinnesorganen ist es ähnlich, wenn auch die Sache nicht so offen zutage tritt wie beim Auge. Es kommt dies daher, dass die Sinnesorgane in ihrer Bildung eine gewisse Abgeschlossenheit zeigen. Sie sind als fertige Bildungen dem Organismus eingegliedert, und als solche vermitteln sie die Wahrnehmungen der Aussenwelt.

So aber ist es nicht mit den rhythmischen Vorgängen, die sich im Organismus abspielen. Sie stellen sich nicht als etwas Fertiges dar. In ihnen vollzieht sich ein fortwährendes Entstehen und Vergehen des Organismus. Wären die Sinnesorgane so wie das rhythmische System, so würde der Mensch die Aussenwelt in der Art wahrnehmen, dass diese in einem fortwährenden Werden sich befände.

Die Sinnesorgane stellen sich dar wie ein Bild, das an der Wand hängt. Das rhythmische System steht vor uns wie das Geschehen, das sich entfaltet, wenn Leinwand und Maler im Entstehen des Bildes von uns betrachtet werden. Das Bild ist noch nicht da; aber es ist immer mehr da. In dieser Betrachtung hat man es nur mit einem Entstehen zu tun. Was entstanden ist, bleibt zunächst bestehen. In der Betrachtung des menschlichen rhythmischen Systems schliesst sich das Vergehen, der Abbau, sogleich an das Entstehen, an den Aufbau an. Im rhythmischen System offenbart sich ein werdendes Bild. |49

Die Tätigkeit, welche die Seele verrichtet, indem sie sich einem ihr Gegenüberstehenden wahrnehmend hingibt, das fertiges Bild ist, kann als Imagination bezeichnet werden. Das Erleben, das entfaltet werden muss, um ein werdendes Bild zu erfassen, ist dem gegenüber Inspiration.

Noch anders liegt die Sache, wenn man das Stoffwechsel- und das Bewegungssystem des menschlichen Organismus betrachtet. Da ist es, als ob man vor der noch ganz leeren Leinwand, den Farbentöpfen und dem noch nicht malenden Künstler stünde. Will man dem Stoffwechsel- und dem Gliedmassensystem gegenüber zum Begreifen kommen, so muss man ein Wahrnehmen entwickeln, das mit dem Wahrnehmen dessen, was die Sinne erfassen, nicht mehr zu tun hat als der Anblick von Farbentöpfen, leerer Leinwand und Maler mit dem, was später als Bild des Malers vor unsere Augen tritt. Und die Tätigkeit, in der die Seele rein geistig den Menschen aus dem Stoffwechsel und aus seinen Bewegungen heraus erlebt, ist so, wie wenn man im Anblicke vom Maler, leerer Leinwand und Farbentöpfen das später gemalte Bild erlebte. Dem Stoffwechsel- und Gliedmassensystem gegenüber muss in der Seele die Intuition walten, wenn es zum Begreifen kommen soll.

Es ist nötig, dass die tätig wirkenden Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in solcher Art auf die Wesenheit hindeuten, die dem anthroposophischen Betrachten zugrunde liegt. Denn nicht nur soll eingesehen werden, was durch Anthroposophie an Erkenntnisinhalt gewonnen wird, sondern auch, wie man zum Erleben dieses Erkenntnisinhaltes gelangt.

Von dem hier Dargestellten wird der Weg der Betrachtung zu den folgenden Leitsätzen hinüberführen. |50

 

Weitere Leitsätze, vom Goetheanum ausgegeben

38. Ist man dazu gelangt, in der durch die vorigen Leitsätze angedeuteten Richtung den Menschen in seiner Bildnatur und in der dadurch sich offenbarenden Geistigkeit zu betrachten, so steht man davor, in der geistigen Welt, in der man den Menschen als Geistwesen waltend schaut, auch die seelisch-moralischen Gesetze in ihrer Wirklichkeit mitzuschauen. Denn die moralische Weltordnung stellt sich dann als das irdische Abbild einer zur geistigen Welt gehörigen Ordnung dar. Und physische und moralische Weltordnung gliedern sich zur Einheit zusammen.

39. Aus dem Menschen wirkt der Wille. Der steht den an der Aussenwelt gewonnenen Naturgesetzen ganz fremd gegenüber. Das Wesen der Sinnesorgane ist noch an seiner Aehnlichkeit gegenüber den äusseren Naturgegenständen zu erkennen. In ihrer Tätigkeit kann sich der Wille noch nicht entfalten. Das Wesen, das sich im rhythmischen System des Menschen offenbart, ist allem Aeusseren schon unähnlicher. In dieses System kann der Wille schon bis zu einem gewissen Grade eingreifen. Aber es ist dieses System im Entstehen und Vergehen begriffen. An diese ist der Wille noch gebunden. |51

40. Im Stoffwechsel- und Gliedmassensystem offenbart sich ein Wesen zwar durch die Stoffe und die Vorgänge an den Stoffen, aber diese Stoffe und diese Vorgänge haben mit ihm nichts weiter zu tun als der Maler und seine Mittel mit dem fertigen Bilde. In dieses Wesen kann daher der Wille unmittelbar eingreifen. Erfasst man hinter der in Naturgesetzen lebenden Menschenorganisation die im Geistigen webende Menschenwesenheit, so hat man in dieser ein Gebiet, in dem man das Wirken des Willens gewahr werden kann. Gegenüber dem Sinnesgebiete bleibt der menschliche Wille ein Wort ohne allen Inhalt. Und wer ihn in diesem Gebiete erfassen will, der verlässt im Erkennen das wahre Wesen des Willens und setzt etwas anderes an dessen Stelle. |52

 

XIX

Etwas von der Stimmung, die in den

Zweigversammlungen sein sollte

AL, 52-56

Die Betrachtungsart gegenüber dem Menschen, von der das letzte Mal hier gesprochen worden ist, führt zu einer sachgemässen Anerkennung von der Wirksamkeit des Geistig-Seelischen in der physischen und ätherischen Menschenwesenheit. Hat man begriffen, dass das sinnenfällig Anschauliche am Menschen Bild ist, so erfasst man auch leicht, dass in dem Bilde anderes wirkt als dasjenige, was in ihm an Stoff­artigem enthalten ist. Man wird sich aber auch mit einer ganz anderen Seelen-Einstellung dem gegenüber verhalten, dessen Bildwesenheit man anerkennt, als einem solchen gegenüber, das man nur in seiner eigenen stoffartigen Beschaffenheit ins Auge fasst.

Und in dieser anderen Seelen-Einstellung liegt etwas Aufweckendes. Empfindet man ganz lebhaft, wie man sich in einer solchen Einstellung innerlich verhält, wie man gestimmt ist, so fühlt man das Aufwachen von Seelenkräften, die im gewöhnlichen Leben schlummern. Und dar­auf kommt viel an, dass derjenige, der Anthroposophie aufnimmt, an diesem Aufnehmen schon empfindet: in der Menschenseele schlummern noch andere Erkenntniskräfte, als die sind, die er vor seinem Herantreten an die Anthroposophie anerkannt hat.

Weiss man, man hat ein Bild vor sich, so stellt man das Erkennen auf das Nicht-Sinnenfällige ein. Man wird dadurch von diesem Nicht-­Sinnenfälligen ergriffen, wie man im Wahrnehmungsleben von dem Sinnenfälligen ergriffen wird. |53

Wenn die vortragend tätigen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in den Zweigversammlungen die Aufmerksamkeit für solche Dinge wachrufen, so wird dadurch zu dem anthroposophischen Lehren anthroposophische Stimmung kommen.

Und diese sachgemäss hervorgerufene Stimmung wird erst den Zweigversammlungen den Geist geben, der in ihnen walten soll. Der Teilnehmer wird dann fühlen, dass Anthroposophie nicht bloss eine theoretische Mitteilung über das Geistige enthält, sondern dass sie ein in sich Kraftvolles, Wesenhaftes ist, das zum Erleben des Geistigen hinüberführt.

In jeder sachgemässen Art sollte von den tätigen Mitgliedern bedacht werden, wie dieses Erleben des Geistigen in der anthroposophischen Arbeit erreicht werden kann.

Denn nur auf diese Art kann in denen, die Anthroposophie aufneh­men, ohne selbst im Geistigen forschen zu können, das Gefühl über­wunden werden, dass sie nur theoretisch sich mitteilen lassen, was andere, die es zum Forschen gebracht haben, erleben. In der rechten Mitteilung des im Geiste Erlebten liegt ein Mit-Erleben-Lassen des Mitgeteilten.

Herrscht dieser Geist des Mit-Erleben-Lassens in den Zweigver­sammlungen, so vertreibt er alles auf unberechtigtes Autoritätsgefühl gebaute Wesen. Die Gegner der Anthroposophie wenden gegen diese fortwährend ein, dass sich die Anthroposophen zu dem, was ihnen mit­geteilt wird, nur auf dieses Autoritätsgefühl hin bekennen. Wenn in der Gesellschaft Anthroposophie im rechten Geiste getrieben wird, so verliert diese Einwendung jeden Sinn. Denn die Teilnehmer an unsern Versammlungen fühlen dann gar nicht so, dass sie sagen können, sie erkennen dieses oder jenes an, weil dieser oder jener es gesagt hat; |54 denn sie lernen wissen, dass in dem eigenen Innern die Zustimmung nicht erzwungen wird, sondern dass sich diese im selbstverständlichen Erleben einstellt.

Man erlebt doch auch, wenn man einem gutgesinnten Menschen gegenübertritt, dessen innere Gütigkeit nicht deshalb, weil eine Autori­tät dazu anleitet, die Gütigkeit als wohltuend zu empfinden, sondern weil sich die Seele unmittelbar von der gütigen Art wohltuend berührt fühlt. So kann man die Wahrheit der Anthroposophie an der Art ihres Mitteilens, an ihrem eigenen Wesen gewahr werden.

Dass die Anthroposophie so wirken kann, dazu sollten die Zweigleiter das Notwendige tun. Nicht durch die Hervorrufung des Gefühles: da werden Dinge vorgebracht, die geheimnisvoll sind, soll der esoteri­sche Charakter der anthroposophischen Versammlungen bedingt sein. Esoterik beruht auf dem charakterisierten Verinnerlichen in der Mitteilung von Wahrheiten. Man sollte in dieser Verinnerlichung etwas von dem Impuls sehen, den die Weihnachtstagung in die Anthroposo­phische Gesellschaft hat bringen wollen. In dem unaufhörlichen Wach-­Erhalten dieser Absicht und dieses Wollens von der Weihnachtstagung her wird der Segen liegen können, den diese Tagung gehabt hat und den sie weiter wird über die anthroposophische Bewegung ausgiessen können. |55

 

Weitere Leitsätze, die für die Anthroposophische Gesellschaft

vom Goetheanum ausgegeben werden.

41. Durch den dritten Leitsatz der vorigen Gruppe wird auf das Wesen des menschlichen Willens hingewiesen. Erst wenn man dieses Wesen gewahr geworden ist, steht man mit seinem Begreifen in einer Weltsphäre darinnen, in der das Schicksal (Karma) wirkt. Solange man nur die Gesetzmässigkeit erblickt, die im Zusammenhange der Naturdinge und Naturtatsachen herrscht, bleibt man dem ganz fern, das im Schicksal gesetzmässig wirkt.

42. In einem solchen Erfassen der Gesetzmässigkeit im Schicksal offenbart sich auch, dass sich dieses durch den Gang des einzelnen physischen Erdenlebens nicht zum Dasein bringen kann. Solange der Mensch in demselben physischen Leibe lebt, kann er den moralischen Inhalt seines Willens nur so zur Wirklichkeit werden lassen, wie es dieser physische Leib innerhalb der physischen Welt gestattet. Erst, wenn der Mensch durch die Todespforte in die Geistessphäre eingezogen ist, kann die Geistwesenheit des Willens zur vollen Wirklichkeit gelangen. Da wird das Gute in seinen ihm entsprechenden Ergebnissen, das Schlechte in den seinigen, zunächst zur geistigen Verwirklichung kommen. |56

43. In dieser geistigen Verwirklichung gestaltet sich der Mensch selber zwischen dem Tode und einer neuen Geburt; er wird wesenhaft ein Abbild dessen, was er im Erdenleben getan hat. Aus diesem seinem Wesenhaften heraus gestaltet er dann beim Wieder-Betreten der Erde sein physisches Leben. Das Geistige, das im Schicksal waltet, kann im Physischen nur seine Verwirklichung finden, wenn seine entsprechende Verursachung vor dieser Verwirklichung sich in das geistige Gebiet zurückgezogen hat. Denn aus dem Geistigen heraus, nicht in der Folge der physischen Erscheinungen gestaltet sich, was sich als schicksalsgemäss auslebt. |57

   

Briefe an die Mitglieder -

Anthroposophische Leitsätze

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