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Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:

GE   EG   WW   PF   FN   GW   HG   RP   MA   CM   TH   AN   WE   SE   FK   AC   GU  

PdE   PdS   HdS   DSE   WS   SW   GF   GK   VM  VS  GG  KS   AD   DS   SL   AL   EH   ML

III. Franz Brentano.

(Ein Nachruf)

VS, 117-196

Über das Verhältnis von Anthropologie und Anthroposophie in genügender Form zu sprechen ist aus den im vorigen Abschnitt dieser Schrift angeführten Gründen in Anknüpfung an Max Dessoirs Buch »Vom Jenseits der Seele« nicht möglich. Ich glaube nun aber, daß dieses Verhältnis anschaulich werden kann, wenn ich an diese Stelle die Ausführungen setze, die ich in anderer Absicht niedergeschrieben habe, nämlich als Nachruf für den im März 1917 in Zürich verstorbenen Philosophen Franz Brentano. Der Hingang des von mir aufs höchste verehrten Mannes hat bei mir bewirkt, daß dessen bedeutungsvolles Lebenswerk erneut mir vor die Seele getreten ist; er hat mich bestimmt, das Folgende auszusprechen.

* * * |118

Es scheint mir, daß ich den Versuch machen darf, vom anthroposophischen Gesichtspunkte aus zu einer Ansicht über Franz Brentanos philosophisches Lebenswerk zu gelangen in diesem Augenblick, da der Tod der verehrten Persönlichkeit die Fortsetzung dieses Werkes unterbrochen hat. Ich glaube, daß der anthroposophische Gesichtspunkt mich nicht in eine einseitige Schätzung der Brentanoschen Weltanschauung verfallen lassen kann. Dies nehme ich aus zwei Gründen an. Erstens kann die Vorstellungsart Brentanos von niemand beschuldigt werden, daß sie selbst auch nur die geringste Hinneigung zu einer anthroposophischen Richtung habe. Ihr Träger hätte diese, wenn er selbst zu einem Urteile über sie Veranlassung gehabt hätte, wohl mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Zweitens bin ich, von meinem anthroposophischen Gesichtspunkte aus, in der Lage, der Philosophie Franz Brentanos rückhaltlose Verehrung entgegenzubringen.

Was das erste betrifft, so glaube ich nicht zu irren, wenn ich sage, Brentano hätte, wenn er über die von mir gemeinte Anthroposophie zu einem Urteil gekommen wäre, dies |119 so gestaltet, wie dasjenige, das er sich über Plotins Philosophie gebildet hat. Wie dieser gegenüber würde er wohl auch von der Anthroposophie gesagt haben: »Mystisches Dunkel und ein freies Schweifen der Phantasie in unbekannten Regionen.« (67) Wie dem Neuplatonismus würde er auch gegenüber der Anthroposophie zur Vorsicht gemahnt haben, »damit man nicht, von eitlem Scheine verlockt, in den labyrinthischen Gängen einer Pseudophilosophie sich verliere«. (68) Ja, er hätte vielleicht die Denkweise der Anthroposophie für zu dilettantisch befunden, um sie auch nur für würdig zu halten, sie den Philosophien beizuzählen, über die er so urteilte wie über die Fichte-Schelling-Hegelsche. In seiner Wiener Antrittsrede sagt er über diese: »Vielleicht ist auch die jüngstvergangene Zeit eine … Epoche des Verfalles gewesen, in der alle Begriffe trüb ineinander schwammen, und von sachentsprechender Methode nicht |120 eine Spur mehr zu finden war.« (69) Ich glaube, daß Brentano so geurteilt hätte, wenn ich auch selbstverständlich nicht nur dieses Urteil für völlig grundlos, sondern auch jede Zusammenstellung der Anthroposophie mit den Philosophien, mit denen sie dieser Philosoph wahrscheinlich zusammengestellt hätte, für unberechtigt halte.

Was nun den zweiten der oben angegebenen Gründe, mich mit der Brentanoschen Philosophie auseinanderzusetzen, betrifft, so darf ich bekennen, daß sie für mich zu den anziehendsten Leistungen der Seelenforschung in der Gegenwart gehört. Ich konnte zwar nur wenige der Wiener Vorlesungen Brentanos vor etwa 36 Jahren hören; aber von diesem Zeitraum an habe ich seine schriftstellerische Tätigkeit mit wärmstem Anteile verfolgt. Leider erschienen seine Veröffentlichungen, gemessen an meinem Wunsche, von ihm zu vernehmen, in viel zu großen Zeitabständen. Und sie sind zumeist so gehalten, daß man |121 durch sie nur wie durch kleine Öffnungen in einen Raum mit einer Fülle von Schätzen, so durch gelegentliche Veröffentlichungen auf ein weites Reich unveröffentlichter Gedanken blickte, das der hervorragende Mann in sich trug. So in sich trug, daß es in fortwährender Ausgestaltung hohen Erkenntniszielen zustrebte. Als nach langer Pause 1911 Brentanos Buch über »Aristoteles«, seine glänzende Schrift »Aristoteles’ Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes« und sein Wiederabdruck des wichtigsten Teiles seiner Psychologie mit den so scharfsinnigen »Nachträgen« erschienen waren, da war das Lesen dieser Schriften für mich eine Reihe von Festesfreuden. (70)

Ich fühle mich Franz Brentano gegenüber von einer solchen Gesinnung durchdrungen, von der ich glaube sagen zu dürfen, daß man |122 sie erwirbt, wenn die vom anthroposophischen Gesichtspunkte aus gewonnene wissenschaftliche Überzeugung – eben die Gesinnung ergreift. Ich bestrebe mich, seine Anschauungen in ihrem Werte zu durchschauen, wenn ich mich auch keiner Täuschung darüber hingebe, daß er in dem oben angedeuteten Sinne über Anthroposophie hätte denken können, ja wohl, müssen. Dies bringe ich hier wahrlich nicht vor, um in alberner Art über meine Gesinnung gegenüber gegnerischen oder abweichenden Anschauungen in eine eitle Selbstkritik zu verfallen, sondern weil ich weiß, wie viel Mißverständnisse meiner Urteile über andere Geistesrichtungen es mir gebracht hat, daß ich mich in meinen Veröffentlichungen oft so ausgesprochen habe, wie es eine Folge dieser Gesinnung ist.

Die ganze Brentanosche Seelenforschung methodisch durchdringend erscheinen mir die Grundgedanken, welche ihn 1868 zur Aufstellung seines Leitsatzes führten. Als er damals in Würzburg seine philosophische Professur antrat, rückte er seine Vorstellungsart in das Licht der These: es könne die wahre philosophische Forschungsart keine andere sein als |123 die in dem naturwissenschaftlichen Erkennen berechtigte. »Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est.« (71) Als er dann den ersten Band seiner »Psychologie vom empirischen Standpunkte« 1874 erscheinen ließ – in der Zeit, als er seine Wiener Professur antrat – suchte er die Seelenerscheinungen in Gemäßheit des angeführten Leitsatzes wissenschaftlich darzulegen. (72) Für mich bildet, was Brentano mit diesem Buche gewollt hat, und was von diesem Wollen während seiner Lebenszeit durch seine Veröffentlichungen zutage getreten ist, ein bedeutsames wissenschaftliches Problem. Brentano hatte – das geht aus seinem Buche hervor – seine Psychologie auf eine Reihe |124 von Büchern berechnet. Das zweite hatte er versprochen kurze Zeit nach dem ersten erscheinen zu lassen. Es ist keine Fortsetzung des nur die Anfangsvorstellungen seiner Psychologie enthaltenden ersten Teiles erschienen. Als er 1889 seinen in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag »Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis« abdrucken ließ, schrieb er in der Vorrede: »Man würde irren, wenn man um des zufälligen Anstoßes willen den Vortrag für ein flüchtiges Werk der Gelegenheit hielte. Er bietet Früchte von jahrelangem Nachdenken. Unter allem, was ich bisher veröffentlicht, sind seine Erörterungen wohl das gereifteste Erzeugnis. – Sie gehören zum Gedankenkreise einer ›Deskriptiven Psychologie‹, den ich, wie ich nunmehr zu hoffen wage, in nicht ferner Zeit seinem ganzen Umfange nach der Öffentlichkeit erschließen kann. Man wird dann an weiten Abständen von allem Hergebrachten und insbesondere auch an wesentlichen Fortbildungen eigener, in der ›Psychologie vom empirischen Standpunkt‹ vertretener Anschauungen genugsam erkennen, daß ich in meiner langen literarischen Zurückgezogenheit |125 nicht eben müßig gewesen bin.« (73) Auch diese »Deskriptive Psychologie« ist nicht erschienen. Die Verehrer der Brentanoschen Philosophie können ermessen, welchen Gewinn sie ihnen gebracht hätte, wenn sie die ein enges Gebiet umfassenden 1907 erschienenen »Untersuchungen zur Sinnespsychologie« studieren. (74)

Man muß sich die Frage stellen: was hat Brentano dazu gebracht, in der Fortsetzung seiner Veröffentlichungen immer wieder inne zu halten, ja, das als in kurzer Zeit fertig Geglaubte dann doch nicht zu veröffentlichen? Ich bekenne, daß ich mit innerlichster Erschütterung in dem Nachruf für Franz Brentano, den Alois Höfler im Mai 1917 hat erscheinen lassen, die Worte las: »Wie er an seinem Hauptproblem, dem Gottesbeweis, so zuversichtlich weiterarbeitete, daß mir noch vor wenigen Jahren ein mit Brentano innig befreundeter, ausgezeichneter Wiener Arzt |126 erzählte, Brentano habe ihm kürzlich versichert, nun habe er den Gottesbeweis binnen wenigen Wochen fertig …« (75) Ebenso empfand ich, als ich aus einem andern Nachruf (von Utitz) vernahm: (76) »Das Werk, das er am heißesten geliebt, an dem er sein ganzes Leben lang geschaffen, ist unveröffentlicht geblieben.«

Mir scheint, daß Brentanos Schicksale mit seinen geplanten Veröffentlichungen ein schwerwiegendes geisteswissenschaftliches Problem darstellen. Nähern wird man sich diesem wohl nur, wenn man dasjenige in seiner Eigenart betrachten will, was er der Welt hat mitteilen könne.

Ich halte für wichtig, ins Auge zu fassen, daß Brentano in seiner psychologischen Forschung in scharfsinniger Weise eine reine Vorstellung des wirklich Seelischen zugrunde legen will. Er fragt sich: was ist Charakteristisches in allen Vorkommnissen, die man als seelische ansprechen muß. Und er fand, was er in den Nachträgen zur Psychologie 1911 so ausdrückte: »Das Charakteristische für |127 jede psychische Tätigkeit besteht, wie ich gezeigt zu haben glaube, in der Beziehung zu etwas als Objekt.« (77) Vorstellen ist eine psychische Tätigkeit. Das Charakteristische ist, daß ich nicht nur vorstelle, sondern daß ich etwas vorstelle, daß meine Vorstellung sich auf etwas bezieht. Mit einem der mittelalterlichen Philosophie entlehnten Ausdruck bezeichnet Brentano diese Eigenheit der seelischen Erscheinungen als »intentionale Beziehung«. »Der gemeinsame Charakterzug« – so führt er an einem andern Orte aus – »alles Psychischen besteht in dem, was man häufig mit einem leider sehr mißverständlichen Ausdruck Bewußtsein genannt hat, d. h. in einem subjektischen Verhalten, in einer, wie man sie bezeichnete, intentionalen Beziehung zu etwas, was vielleicht nicht wirklich, aber doch innerlich gegenständlich gegeben ist. Kein Hören ohne Gehörtes, kein Glauben ohne Geglaubtes, kein Hoffen ohne Gehofftes, kein Streben ohne Erstrebtes, keine Freude ohne etwas, |128 worüber man sich freut, und so im übrigen.« (78) Dieses intentionale Innesein ist nun in der Tat etwas, was wie ein Leitmotiv so führt, daß man alles, dem man es beilegen kann, eben dadurch in seiner seelischen Eigenart erkennt.

Den psychischen Erscheinungen stellt Brentano die physischen gegenüber: Farben, Schall, Raum und viele andere. Er findet, daß sich diese von jenen eben dadurch unterscheiden, daß ihnen eine intentionale Beziehung nicht eigen ist. Und er beschränkt sich darauf, diese Beziehung den psychischen Erscheinungen zu-, den physischen abzusprechen. Nun wird aber gerade, wenn man Brentanos Ansicht über die intentionale Beziehung kennen lernt, die Vorstellung zu der Frage hingeführt: macht ein solcher Gesichtspunkt nicht notwendig, auch das Physische von ihm aus anzusehen? Wer nun in diesem Sinne wie Brentano das Psychische so, das Physische auf ein Gemeinsames hin prüft, |129 der findet, daß jede Erscheinung dieses Gebietes durch etwas anderes ist. Löst sich ein Körper in einer Flüssigkeit auf, so tritt diese Erscheinung am gelösten Körper durch die Beziehung der lösenden Flüssigkeit zu ihm auf. Wenn Phosphor seine Farbe durch die Einwirkung der Sonne ändert, so weist dies in dieselbe Richtung. Alle Eigenschaften in der physischen Welt sind durch die Verhältnisse der Dinge zueinander. Es ist für physisches Sein richtig, wenn Moleschott sagt: »Alles Sein ist ein Sein durch Eigenschaften. Aber es gibt keine Eigenschaft, die nicht durch ein Verhältnis besteht.« (79) Wie alles Psychische in sich etwas enthält, wodurch es auf ein außer ihm Befindliches weist, so ist umgekehrt ein Physisches so geartet, daß das, was es ist, es durch die Beziehung eines Äußeren auf es ist. Muß nicht jemand, der in so scharfsinniger Weise wie Brentano die intentionale |130 Beziehung alles Seelischen betont, die Aufmerksamkeit auch auf das Charakteristische der physischen Erscheinungen richten, das sich durch den gleichen Gedankenvorgang ergibt? Sicher scheint zum mindesten, daß eine solche Betrachtung des Seelischen die Beziehung desselben zur physischen Welt nur finden kann, wenn sie dieses Charakteristische in Erwägung zieht. (80)

Brentano findet nun drei Arten von intentionalen Beziehungen im seelischen Leben. Die erste ist das Vorstellen von etwas; die zweite die Anerkennung oder Verwerfung, die sich im Urteilen aussprechen; die dritte die des Liebens oder Hassens, welche im Fühlen erlebt werden. Wenn ich sage: Gott ist gerecht, so stelle ich etwas vor; aber ich anerkenne oder verwerfe das Vorgestellte noch nicht; wenn ich aber sage: es gibt einen Gott, so anerkenne ich das Vorgestellte durch ein Urteil Sage ich: die |131 Freude ist mir lieb, so urteile ich nicht bloß, sondern ich erlebe ein Gefühl. Brentano unterscheidet aus solchen Voraussetzungen heraus drei Grundklassen der psychischen Erlebnisse: Vorstellen, Urteilen, Fühlen (oder die Erscheinungen des Liebens und Hassens). Diese drei Grundklassen setzt er an die Stelle der von anderen anerkannten Teilung der psychischen Erscheinungen in: Vorstellen, Fühlen und Wollen. (81) Während nämlich Vorstellen und Urteilen viele in eine Klasse zusammenfassen, trennt Brentano die beiden. Er ist mit der Zusammenfassung nicht einverstanden, weil er nicht wie andere in dem Urteil nur eine Verbindung von Vorstellungen sieht, sondern eben eine Anerkennung oder ein Verwerfen des Vorgestellten, was beim bloßen Vorstellen nicht vollzogen wird. Gefühl und Wille hinwiederum, welche andere trennen, fallen für Brentano, ihrem seelischen Gehalte nach, in eins zusammen. Was seelisch erlebt wird, indem man sich zum Verrichten einer Handlung hingezogen oder |132 davon abgestoßen fühlt, ist dasselbe, was man erlebt, wenn man zur Freude sich hingezogen oder vom Schmerze abgestoßen fühlt.

Es ist aus Brentanos Schriften ersichtlich, daß er einen großen Wert darauf legt, die von ihm vorgefundene Gliederung des seelischen Erlebens in Denken, Fühlen und Wollen durch die andere ersetzt zu haben, in Vorstellen, Urteilen und in Lieben und Hassen. Von dieser Gliederung aus sucht er sich einen Weg zu bahnen zum Verständnis dessen, was die Wahrheit auf der einen Seite, die sittliche Güte auf der anderen Seite ist. Die Wahrheit stützt sich ihm auf das richtige Urteilen; die sittliche Güte auf das richtige Lieben. Er findet: »Wir nennen etwas wahr, wenn die darauf bezügliche Anerkennung richtig ist. Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist.« (82)

Man kann in Brentanos Ausführungen finden, daß er mit der richtigen Anerkennung im Urteile bei der Wahrheit, mit dem richtigen Erleben der Liebe bei der sittlichen Güte einen seelischen Tatbestand scharf ins Auge |133 faßt und umschreibt. Allein man kann innerhalb seines Vorstellungsbereiches nichts finden, was genügen würde, um von dem seelischen Erlebnis des Vorstellens zu dem des Urteilens den Übergang zu finden. Wo man auch hinblickt in diesem Vorstellensbereich: man sucht vergebens nach der Beantwortung der Frage: was liegt denn vor, wenn sich die Seele bewußt ist, sie stelle nicht bloß vor, sondern sie finde sich veranlasst, den Gegenstand des Vorstellens durch ein Urteil anzuerkennen? – Ebensowenig kann man eine Frage vermeiden bei dem richtigen Lieben für die sittliche Güte. Innerhalb desjenigen Bereiches, welchen Brentano als »Seelisches« umschreibt, ist für das sittliche Verhalten allerdings kein anderer Tatbestand vorhanden als das richtige Lieben. Aber ist denn einer sittlichen Handlung nicht auch eine Beziehung zu der äußeren Welt eigen? Kann dieses, was eine solche Handlung für die Welt charakterisiert, erschöpft werden dadurch, daß man sagt: sie ist eine Handlung, die richtig geliebt wird? (83) |134

Man hat beim Verfolgen Brentanoscher Gedankengänge zumeist das Gefühl: sie seien immer fruchtbringend, weil sie ein Problem nach einer Richtung hin scharfsinnig und mit wissenschaftlicher Besonnenheit in Angriff nehmen; aber man empfindet auch, Brentano führt mit solchen Gedankengängen nicht zu dem Ziel, das seine Ausgangspunkte versprechen. Solch eine Empfindung kann sich auch aufdrängen, wenn man seine Dreiteilung des Seelenlebens in Vorstellen, Urteilen, Lieben und Hassen vergleicht mit der andern in Vorstellen, Fühlen und Wollen. Man folgt mit einer gewissen Zustimmung dem, was er für seine Meinung beizubringen weiß; und man kann zuletzt doch wohl kaum die Überzeugung gewinnen, daß er alle Gründe hinreichend würdigt, die für die andere sprechen. Man nehme nur als besonderes Beispiel die Folgerung, die Brentano aus seiner Gliederung für die Kennzeichnung des Wahren, Schönen und Guten zieht. Wer das Seelenleben nach erkennendem Vorstellen, Fühlen und Wollen |135 gliedert, wird kaum anders können, als das Streben nach Wahrheit mit dem Vorstellen, das Erleben der Schönheit mit dem Fühlen, das Vollbringen des Guten mit dem Wollen in einen näheren Zusammenhang zu bringen. Im Lichte der Brentanoschen Gedanken erscheint die Sache anders. Da haben die Vorstellungen als solche keine Beziehung zueinander, durch die sich als solche schon die Wahrheit offenbaren könnte. Strebt die Seele nach einem Vollkommenen in der Beziehung von Vorstellungen, so kann daher ihr Ideal dabei nicht die Wahrheit sein; es ist vielmehr die Schönheit. Die Wahrheit liegt nicht auf dem Wege des bloßen Vorstellens, sondern des Urteilens. Und das sittlich Gute findet sich nicht als ein dem Wollen Wesentliches, sondern ist Inhalt eines Fühlens; denn richtig zu lieben, ist Gefühls-Erlebnis. (84) – Nun kann aber die Wahrheit |136 für das gewöhnliche Bewußtsein doch nur im vorstellenden Erkennen gesucht werden. Denn, wenn auch das Urteil, das zur Wahrheit führt, nicht in einer bloßen Verbindung von Vorstellungen sich erschöpft, sondern auf einer Anerkennung oder Verwerfung von Vorstellungen beruht, so kann diese Anerkennung oder Verwerfung von diesem Bewußtsein nur in Vorstellungen erlebt werden. – Und wenn auch die Vorstellungen, durch die ein Schönes dem Bewußtsein sich darstellt, in gewissen innerhalb des Vorstellungslebens gelegenen Verhältnissen sich offenbaren: erlebt wird die Schönheit doch durch das Gefühl. – Und obgleich ein sittlich Gutes in der Seele ein richtiges Lieben hervorrufen soll: sein Wesentliches ist doch die Verwirklichung des richtig Geliebten durch das Wollen.

Man erkennt erst, was in Brentanos Gedanken über die Dreigliederung des Seelenlebens vorliegt, wenn man durchschaut, daß er von etwas ganz anderem spricht als diejenigen, welche diese Gliederung nach Vorstellen, Fühlen und Wollen vollziehen. Diese wollen einfach die Erfahrung des gewöhnlichen Bewußtseins beschreiben. Und dieses |137 erfährt von sich selbst in den von einander unterschiedenen Verrichtungen des Vorstellens, Fühlens und Wollens. Was wird da eigentlich erfahren? In meinem Buche »Vom Menschenrätsel« habe ich versucht, diese Frage zu beantworten. Die dort vorgebrachten Ergebnisse habe ich in der folgenden Art zusammengefaßt. »Zunächst ist das seelische Erleben des Menschen, wie es sich im Denken, Fühlen und Wollen offenbart, an die leiblichen Werkzeuge gebunden. Und es gestaltet sich so, wie es durch diese Werkzeuge bedingt ist. Wer aber meint, er sehe das wirkliche Seelenleben, wenn er die Äußerungen der Seele durch den Leib beobachtet, der ist in demselben Fehler befangen, wie einer, der glaubt, seine Gestalt werde von dem Spiegel hervorgebracht, vor dem er steht, weil der Spiegel die notwendigen Bedingungen enthalte, durch die sein Bild erscheint. Dieses Bild ist sogar in gewissen Grenzen als Bild von der Form des Spiegels usw. abhängig: was es aber darstellt, das hat mit dem Spiegel nichts zu tun. Das menschliche Seelenleben muß, um innerhalb der Sinneswelt sein Wesen voll zu erfüllen, ein Bild |138 seines Wesens haben. Dieses Bild muß es im Bewußtsein haben; sonst würde es zwar ein Dasein haben; aber von diesem Dasein keine Vorstellung, kein Wissen. Dieses Bild, das im gewöhnlichen Bewußtsein der Seele lebt, ist nun völlig bedingt durch die leiblichen Werkzeuge. Ohne diese würde es nicht da sein, wie das Spiegelbild nicht ohne den Spiegel. Was aber durch dieses Bild erscheint, das Seelische selbst, ist seinem Wesen nach von den Leibeswerkzeugen nicht abhängiger als der vor dem Spiegel stehende Beschauer von dem Spiegel. Nicht die Seele ist von den Leibeswerkzeugen abhängig, sondern allein das gewöhnliche Bewußtsein der Seele.« (85) – Schildert |139 man diesen von der Leibesorganisation abhängigen Bewußtseinsbereich, so gliedert man richtig nach Vorstellen, Fühlen und Wollen. (86) Aber Brentano schildert etwas anderes. Man fasse zunächst ins Auge, daß er unter dem »Urteilen« ein Anerkennen oder Abweisen eines Vorstellungsinhaltes versteht. Das Urteilen betätigt sich innerhalb des Vorstellungslebens; aber es nimmt die Vorstellungen, die in der Seele auftreten, nicht einfach hin, sondern es setzt sie durch Anerkennung oder Ablehnung in Beziehung zu einer Wirklichkeit. Sieht man genauer zu, so kann diese Beziehung der Vorstellungen auf eine Wirklichkeit nur in einer Tätigkeit der Seele gefunden werden, welche in dieser selbst sich vollzieht. Dem entspricht aber niemals restlos, was die Seele bewirkt, wenn sie eine Vorstellung urteilend auf eine Sinneswahrnehmung bezieht. Denn da ist es der Zwang des äußeren Eindruckes, der nicht rein innerlich erlebt, |140 sondern nur nacherlebt wird, und so als vorgestelltes Nach-Erlebnis zur Anerkennung oder zum Verwerfen führt. Dagegen entspricht, was Brentano beschreibt, in dieser Beziehung vollkommen demjenigen Erkennen, das im ersten Abschnitt dieser Schrift das imaginative genannt wird. In diesem wird das Vorstellen des gewöhnlichen Bewußtseins nicht einfach hingenommen, sondern in innerem Seelen-Erleben weiter gebildet, so daß aus ihm sich die Kraft auslöst, das seelisch Erfahrene auf eine geistige Wirklichkeit so zu beziehen, daß diese anerkannt oder verworfen wird. Brentanos Urteilsbegriff wird also nicht im gewöhnlichen Bewußtsein vollkommen verwirklicht, sondern in der Seele, die in imaginativem Erkenntnis sich betätigt. – Des weiteren ist klar, daß durch Brentanos vollständige Ablösung des Vorstellungs- von dem Urteilsbegriff, von ihm das Vorstellen als bloßes Bild gefaßt wird. So aber lebt das gewöhnliche Vorstellen in der imaginativen Erkenntnis. Auch diese zweite Eigenschaft, welche die Anthroposophie dem imaginativen Erkennen beilegt, findet sich also in Brentanos Charakteristik der psychischen Erscheinungen. |141 – Ferner: Brentano spricht die Erlebnisse des Fühlens als Erscheinungen der Liebe und des Hasses an. Wer zum imaginativen Erkennen aufsteigt, der muß in der Tat diejenige Art des seelischen Erlebens, die für das gewöhnliche Bewußtsein als Lieben und Hassen – im Brentanoschen Sinn – sich offenbart, für das übersinnliche Schauen so umwandeln, daß er sich gewissen Eigenarten der geistigen Wirklichkeit gegenübersetzen kann, welche in meiner »Theosophie« z.B. in der folgenden Art geschildert werden: »Es gehört zu dem ersten, was man sich für die Orientierung in der seelischen Welt aneignen muß, daß man die verschiedenen Arten ihrer Gebilde in ähnlicher Weise unterscheidet, wie man in der physischen Welt feste, flüssige und luft- oder gasförmige Körper unterscheidet. Um dazu zu kommen, muß man die beiden Grundkräfte kennen, die hier vor allem wichtig sind. Man kann sie Sympathie und Antipathie nennen. Wie diese Grundkräfte in einem seelischen Gebilde wirken, danach bestimmt sich dessen Art.« (87) Während Lieben |142 und Hassen für das Leben der Seele in der Sinneswelt etwas Subjektives bleibt, erlebt das imaginative Erkennen das objektive Verhalten in der Seelenwelt mit durch innere Erfahrungen, die dem Lieben und Hassen gleichkommen. Brentano beschreibt auch da, indem er von Seelenerscheinungen spricht, eine Eigenheit des imaginativen Erkennens (durch die dasselbe aber schon in den Bereich einer noch höheren Erkenntnisart hineinreicht). (88) Und daß er von der objektiven Art des Liebens und Hassens im Gegensatz zur subjektiven Gefühlsweise des gewöhnlichen Bewußtseins eine Vorstellung hat, das ersieht man daraus, daß er die sittliche Güte als ein richtiges Lieben darstellt. – Zuletzt |143 muß ganz besonders in Betracht gezogen werden, daß für Brentano das Wollen aus dem Kreise der Seelenerscheinungen herausfällt. Nun gehört das aus dem gewöhnlichen Bewußtsein erfließende Wollen ganz der physischen Welt an. Es verwirklicht sich in der Gestalt, wie es von diesem Bewußtsein gedacht werden kann, restlos in der physischen Welt, obwohl es ein in der physischen Welt sich offenbaren des rein Geistig-Wesenhaftes an sich ist. Schildert man das in der physischen Welt vorhandene gewöhnliche Bewußtsein, so kann in dieser Schilderung das Wollen nicht fehlen. Schildert man das schauende Bewußtsein, so kann in diese Schilderung nichts von den Vorstellungen über das gewöhnliche Wollen übergehen. Denn in der seelischen Welt, auf welche das imaginative Bewußtsein sich bezieht, erfolgt das Geschehen auf einen seelischen Impuls hin anders als durch Akte des Wollens, wie solche der physischen Welt eigen sind. Indem also Brentano die seelischen Erscheinungen in dem Gebiete ins Auge faßt, in dem die imaginative Erkenntnis sich betätigt, muß ihm der Begriff des Wollens sich verflüchtigen. |144

Es scheint wirklich einleuchtend zu sein, daß Brentano dazu getrieben worden ist, indem er das Wesen der psychischen Erscheinungen beschrieben hat, eigentlich das Wesen der schauenden Erkenntnis zu schildern. Selbst aus Einzelheiten seiner Darstellung geht dies klar hervor. Man nehme ein Beispiel für viele, die angeführt werden könnten. Er sagt: »Der gemeinsame Charakterzug alles Psychischen besteht in dem, was man häufig mit einem leider sehr mißverständlichen Ausdruck Bewußtsein genannt hat …« (89) Aber wenn man nur diejenigen Seelenerscheinungen schildert, welche als dem gewöhnlichen Bewußtsein angehörig von der Leibesorganisation bedingt sind, so ist der Ausdruck gar nicht mißverständlich. Brentano hat eine Empfindung davon, daß die wirkliche Seele aber in diesem gewöhnlichen Bewußtsein nicht lebt, und er fühlt sich veranlasst, von dem Wesen dieser wirklichen Seele in Vorstellungen zu sprechen, die allerdings mißverstanden werden müssen, wenn man auf sie den gewöhnlichen Bewußtseinsbegriff anwenden will. |145

Brentano geht in seiner Forschung so vor, daß er die Erscheinungen des anthropologischen Gebietes bis dahin verfolgt, wo sie den Unbefangenen dazu zwingen, Vorstellungen über die Seele zu bilden, welche zusammentreffen mit dem, was die Anthroposophie auf ihren Wegen über die Seele findet. Und die Ergebnisse der beiden Wege zeigen sich gerade durch Brentanos Psychologie im vollsten Einklange. Brentano selbst wollte aber den anthropologischen Weg nicht verlassen. Daran hinderte ihn seine Auslegung des von ihm aufgestellten Leitsatzes: »Es kann die wahre Forschungsart der Philosophie keine andere sein als die in der naturwissenschaftlichen Erkenntnisart anerkannte.« (90) Eine andere Auffassung dieses Leitsatzes hätte ihn dazu führen können, anzuerkennen, daß man gerade dann die naturwissenschaftliche Vorstellungsart in dem rechten Lichte sieht, wenn man sich bewußt ist, daß diese für das geistige Gebiet sich ihrem eigenen Wesen gemäß wandeln muß. Brentano hat die wahren Seelenerscheinungen, welche er als solche |146 kennzeichnet, niemals zum Gegenstande eines ausgesprochenen Bewußtseins machen wollen. Hätte er dieses getan, so wäre er von der Anthropologie zur Anthroposophie fortgeschritten. Er fürchtete diesen Weg, weil er ihn nur als ein Abirren in »mystisches Dunkel und ein freies Schweifen der Phantasie in unbekannte Regionen« anzusehen vermochte. (91) Er ließ sich auf eine Prüfung dessen gar nicht ein, was seine eigene psychologische Auffassung notwendig machte. Jedesmal, wenn er vor der Notwendigkeit stand, seinen eigenen Weg fortzusetzen in das anthroposophische Gebiet hinein, blieb er stehen. Er wollte die Fragen, welche sich nur anthroposophisch beantworten lassen, anthropologisch lösen. Diese Lösung mußte scheitern. Weil sie scheitern mußte, konnte er seine angefangenen Darstellungen nicht so fortsetzen, daß die Fortsetzung für ihn hätte befriedigend werden können. Hätte er die »Psychologie vom empirischen Standpunkt« fortgesetzt: sie hätte nach dem Ergebnisse des ersten Bandes eine Anthroposophie werden müssen. Hätte |147 er seine »Deskriptive Psychologie« wirklich geliefert: Anthroposophie müßte aus ihr überall herausleuchten. Hätte er entsprechend seinem Ausgangspunkte die Ethik seiner Schrift »Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis« weitergeführt: er hätte auf Anthroposophie stoßen müssen.

Vor Brentanos Seele stand die Möglichkeit einer Psychologie, die nicht wie die rein anthropologische gestaltet sein kann. Die letztere kann an die Fragen gar nicht denken, welche als die bedeutungsvollsten über das Seelenleben aufgeworfen werden müssen. Die neuere Psychologie will nur anthropologisch sein, weil sie alles darüber Hinausgehende für unwissenschaftlich hält. Brentano aber sagt: »Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwickelung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens und Treibens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein. … Und wenn wirklich der Unterschied der beiden Anschauungen die |148 Aufnahme oder den Ausschluß der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen und ein Eingehen in die metaphysische Untersuchung über die Substanz als Trägerin der Zustände unvermeidlich.« (92) Anthroposophie zeigt, wie nicht durch metaphysische Spekulationen in das von Brentano bezeichnete Gebiet eingetreten werden kann, sondern allein durch Betätigung solcher Seelenkräfte, welche nicht in das gewöhnliche Bewußtsein fallen können. Indem Brentano in seiner Philosophie das Wesen der Seele so schildert, daß in seiner Schilderung das Wesen der schauenden Erkenntnis deutlich zum Ausdrucke kommt, ist diese Philosophie eine vollkommene Rechtfertigung der Anthroposophie. Und man darf in Brentano sehen den philosophischen Forscher, der auf seinem Wege bis zur Pforte der Anthroposophie gelangt, diese Pforte aber nicht aufschließen will, weil das Bild von naturwissenschaftlicher Denkart, das er sich macht, ihm den Glauben |149 erzeugt, er gelange durch dieses Aufschließen in den Abgrund der Unwissenschaft.

* * *

Die Schwierigkeiten, vor die sich Brentano oft gestellt sieht, wenn er seine Vorstellungen fortsetzen will, rühren davon her, daß er diese Vorstellungen über das Wesen des Seelischen auf dasjenige bezieht, was im gewöhnlichen Bewußtsein vorliegt. Dazu wird er veranlasst, weil er innerhalb der Auffassung stehen bleiben will, die ihm als die naturwissenschaftlich berechtigte erscheint. Aber diese Auffassung kann durch ihre Erkenntnismittel eben nur zu dem gelangen, was von dem Seelischen als der Inhalt des gewöhnlichen Bewußtseins vorliegt. Dieser Inhalt ist aber nicht die Wirklichkeit des Seelischen, sondern dessen Spiegelbild. Dies durchschaut Brentano nur von der einen Seite des begreifenden Verstehens, aber nicht von der andern, der Beobachtung. In seinen Begriffen entwirft er ein Bild seelischer Erscheinungen, die sich in der Wirklichkeit der Seele abspielen; wenn er beobachtet, glaubt er in dem Spiegelbild des Seelischen eine |150 Wirklichkeit zu haben (93) – Eine andere philosophische Richtung, der Brentano die schärfste Abneigung entgegengebracht hat, diejenige Eduard von Hartmanns, ist auch von einer naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ausgegangen. Eduard von Hartmann hat den Spiegelbild-Charakter des gewöhnlichen Bewußtseins durchschaut. Er sieht daher in diesem Bewußtsein keine Wirklichkeit. Aber er lehnt es auch entschieden ab, die entsprechende Wirklichkeit überhaupt in ein menschliches Bewußtsein hereinzuholen. Er verweist diese Wirklichkeit in das Gebiet des Unbewußten. Über dieses zu reden, gestattet er nur der hypothetischen Anwendung der durch gewöhnliches Bewußtsein gebildeten Begriffe über dieses Gebiet hinaus. (94) Die |151 Anthroposophie behauptet, daß über dieses Gebiet hinaus geistige Beobachtung möglich ist. Und daß dieser geistigen Beobachtung auch Begriffe zugänglich seien, die so wenig bloß hypothetisch sein dürfen wie die im sinnlichen Felde gewonnenen. – Eduard von Hartmanns Übersinnliches soll kein unmittelbar Erkanntes, sondern ein aus dem unmittelbar Erkannten Erschlossenes sein. Hartmann gehört zu denjenigen Philosophen der neueren Zeit, die Begriffe nicht bilden wollen, wenn sie zum Ausgangspunkt dieser Begriffsbildung nicht die Aussagen der sinnlichen Beobachtung und des Erlebens im gewöhnlichen Bewußtsein haben. Brentano bildet solche Begriffe. Aber er täuscht sich über die Wirklichkeit, in der sie durch Beobachtung gebildet werden können. Sein Geist erweist sich als merkwürdig zwiespältig. Er möchte ganz Naturforscher in dem Sinne sein, wie sich die naturwissenschaftliche Vorstellungsart in der neueren Zeit herausgebildet hat. Und er muß doch Begriffe|152 bilden, welche sich vor dieser Vorstellungsart nur dann rechtfertigen lassen, wenn man dieselbe nicht als die einzig geltende hinnimmt. Dieser Zwiespalt in Brentanos Forschergeist wird dem erklärlich, der sich in die ersten Schriften Brentanos vertieft; in sein Buch: »Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles« (1862); in seine »Psychologie des Aristoteles« (1867) und in seinen »Creatinismus des Aristoteles« (1882). (95) – In diesen Schriften geht Brentano mit mustergültiger Gelehrsamkeit den Gedankengängen des Aristoteles nach. Und in diesem Nachgehen eignet er sich ein Denken an, das sich nicht in den Begriffen erschöpfen lassen kann, die in der Anthropologie geltend sind. In diesen Schriften hat er einen Seelenbegriff im Bereiche seiner Aufmerksamkeit, welcher das Seelische aus dem Geistigen herleitet. Dieses aus dem Geiste herstammende Seelische |153 bedient sich des aus physischen Vorgängen gebildeten Organismus, um innerhalb des sinnlichen Daseins sich Vorstellungen zu bilden. Was in der Seele sich Vorstellungen bildet, ist geistiger Natur, ist der »Nus« des Aristoteles. Aber dieser »Nus« ist von zweifacher Wesenheit, als »Nus pathetikos« ist er rein leidend; er läßt sich von den durch den Organismus ihm gegebenen Eindrücken zu seinen Vorstellungen anregen. Damit aber diese Vorstellungen so in die Erscheinung treten, wie sie in der tätigen Seele sind, muß diese Tätigkeit als »Nus poietikos« wirken. Was der »Nus pathetikos« liefert, wären bloß Erscheinungen in einem finsteren Seelensein; sie werden beleuchtet durch den »Nus poietikos«. Brentano sagt darüber: Der Nus poietikos ist das Licht, welches die Phantasmen erleuchtet und das Geistige im Sinnlichen für unser Geistesauge sichtbar macht. (96) – Es kommt, wenn man Brentano verstehen will, nicht allein darauf an, inwieweit er die aristotelischen Vorstellungen in seine eigene |154 Überzeugung aufgenommen hat, sondern vor allem darauf, daß er sich mit dem eigenen Denken in diesen Vorstellungen hingebungsvoll bewegt hat. Dadurch aber betätigte sich dieses Denken in einem Bereiche, in dem der Ausgangspunkt der Sinnesanschauung und damit die anthropologische Grundlage für die Begriffsbildung nicht vorhanden sind. Und dieser Grundzug des Denkens ist in Brentanos Forschung geblieben. Er will zwar nur gelten lassen, was nach dem Muster der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart anerkannt werden kann; aber er muß Gedanken bilden, die nicht in dieses Bereich gehören. Nun läßt sich nach rein naturwissenschaftlicher Methode über die Seelenerscheinungen nur etwas sagen, insoferne diese das durch die Leibesorganisation bedingte Spiegelbild des wirklich Wesenhaften der Seele sind, das heißt, insofern sie in ihrem Spiegelbild-Charakter mit der Leibesorganisation entstehen und vergehen. Was aber Brentano über die Wirklichkeit des Seelischen denken muß, ist ein Geistiges, von der Leibesorganisation Unabhängiges, das sogar durch den »Nus poietikos« sich das Geistige ||155 im Sinnlichen durch unser Geistesauge sichtbar macht. – Daß Brentano sich mit seinem Denken in solchen Bereichen bewegen kann, verbietet ihm, das Seelensein durch die Leibesorganisation entstehend und mit der Leibesorganisation vergehend zu denken. Weil er aber eine übersinnliche Beobachtung ablehnt, so kann ihm in diesem Seelensein kein Inhalt beobachtbar sein, der über das physische Sein hinausreicht. Sobald er der Seele einen Inhalt zuschreiben soll, den diese ohne die Mithilfe der Leibesorganisation entfalten könnte, fühlt sich Brentano in einer Welt, für die er keine Vorstellungen findet. In solcher Geistesverfassung wendet er sich an Aristoteles und findet auch bei ihm Seelenvorstellungen, die für ein außerleibliches Dasein keinen anderen Inhalt ergeben, als den im leiblichen Dasein erworbenen. Charakteristisch in seiner Einseitigkeit ist, was in dieser Beziehung Brentano in seiner »Psychologie des Aristoteles« vorbringt: »Wie nun der Mensch, wenn ihm ein Fuß oder ein anderes Glied entrissen wird, keine vollendete Substanz mehr ist, so ist er natürlich noch viel weniger eine solche, wenn der ganze leibliche Teil dem Tode |156 anheimgefallen ist. Der geistige Teil besteht zwar noch fort, allein die irren gar sehr, die wie Plato glauben, daß die Trennung vom Leibe für ihn eine Förderung und gleichsam eine Befreiung aus drückendem Gefängnisse sei. Muß ja die Seele nunmehr auf alle die zahlreichen Dienste verzichten, welche die Kräfte des Leibes ihr geleistet haben.« (97) – Über die Auffassung des Aristoteles vom Wesen der Seele war Brentano in einen außerordentlich interessanten Streit mit dem Philosophen Eduard Zeller gekommen. Dieser behauptete, die Meinung des Aristoteles gehe dahin, eine Präexistenz der Seele vor ihrer Verbindung mit der Leibesorganisation anzunehmen, während Brentano dem Aristoteles eine solche Ansicht absprach und ihn nur denken ließ, die Seele werde erst in die Leibesorganisation hineingeschaffen; habe also keine Präexistenz, wohl aber nach der Auflösung des Leibes eine Postexistenz. (98) Brentano meinte, eine |157 Präexistenz nehme nur Plato, nicht aber Aristoteles an. Es ist nicht zu leugnen, daß die Gründe, welche Brentano für seine Meinung und gegen die Zellersche vorbringt, viel Gewicht haben. Abgesehen von der Brentanoschen geistvollen Interpretation entsprechender aristotelischer Behauptungen bietet es ja eine Schwierigkeit, dem Aristoteles die Ansicht von der Präexistenz der Seele zuzuschreiben, weil eine solche einem Grundsatz der aristotelischen Metaphysik zu widersprechen scheint. Aristoteles sagt nämlich, daß niemals eine »Form« vor dem »Stoffe« existieren könne, der die Form trägt. Die Kugelgestalt existiere niemals ohne das sie erfüllende Stoffliche. Da aber Aristoteles das Seelische als die »Form« der Leibesorganisation faßt, so scheint es, daß man ihm nicht zuschreiben dürfe: er habe gedacht, die Seele könne vor der Entstehung der Leibesorganisation existieren.

Brentano hat sich nun mit seinem Seelenbegriff |158 in der aristotelischen Vorstellung von der Unmöglichkeit einer Präexistenz so verfangen, daß er nicht bemerken kann, wie diese aristotelische Vorstellung selbst in einem wichtigen Punkte versagt. Kann man denn wirklich »Form« und »Materie« so denken, daß man nur annimmt: die Form könne nicht vor der sie erfüllenden Materie bestehen? Die Kugelgestalt sei doch nicht vorhanden vor der sie erfüllenden Stoffmasse? So wie sie an der Stoffmasse erscheint, ist die Kugelform gewiß nicht vor der Zusammenballung des Stoffes vorhanden. Allein bevor dieser zusammenschießt, sind die Kräfte vorhanden, welche an diesen Stoff herankommen und deren Ergebnis für ihn sich in seiner Kugelgestalt offenbart. Und in diesen Kräften lebt vor dem Auftreten der Kugelgestalt diese schon gewiß in andrer Art. (99) Hätte |159 Brentano sich nicht durch seine Auslegung der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart für den Inhalt des Seelenbegriffs durch die Anschauungen über die körperliche Organisation gebunden gefühlt, so hätte er vielleicht bemerkt, daß der aristotelische Seelenbegriff selbst mit einem inneren Widerspruch behaftet ist. So hat er denn an der Betrachtung der Weltanschauung des Aristoteles nur die Möglichkeit gewonnen, über die Seele Vorstellungen zu denken, welche diese aus dem Gebiete der Leibesorganisation heraus heben, ihr aber nicht einen solchen Inhalt zuweisen, der gestattet, daß man sie bei unbefangenem Denken wirklich von der Leibesorganisation unabhängig vorstellen kann.

Neben Aristoteles ist für Brentano auch Leibniz ein Philosoph, dem er besondere Anerkennung zuwendet. Besonders die Art der |160 Leibnizischen Seelenbetrachtung scheint ihn angezogen zu haben. Man kann nun sagen, daß Leibniz auf diesem Gebiete eine Vorstellungsweise hat, welche wie eine wesentliche Erweiterung der Meinung des Aristoteles erscheint. Während dieser den wesenhaften Inhalt des menschlichen Denkens abhängig macht von der Sinnesbeobachtung, löst Leibniz diesen Inhalt von der sinnlichen Grundlage los. Dem Aristoteles folgend wird man den Satz anerkennen: es ist nichts im Denken, was nicht vorher in den Sinnen war (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu); Leibniz aber ist der Meinung, daß nichts im Denken sei, was nicht vorher in den Sinnen war, außer das Denken selbst (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus). Es wäre unrichtig, dem Aristoteles die Ansicht zuzuschreiben, daß das im Denken sich betätigende Wesenhafte ein Ergebnis der leiblichen Wirkenskräfte sei. Aber indem er den Nus pathetikos zum leidenden Empfänger der Sinneseindrücke, den Nus poietikos zum Beleuchter dieser Eindrücke machte, blieb innerhalb seiner Philosophie nichts, das Inhalt |161 eines von dem Sinnessein unabhängigen Seelenlebens werden könnte. In dieser Beziehung erweist sich der Leibnizische Satz fruchtbarer. Durch ihn wird die Aufmerksamkeit besonders hingelenkt auf das von der Leibesorganisation unabhängige Seelenwesen. Allerdings wird diese Aufmerksamkeit eingeschränkt auf den bloß intellektiven Teil dieses Wesens. Und insofern ist Leibniz’ Satz einseitig. Dennoch ist er eine Richtlinie, die im gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Zeitalter zu etwas führen kann, zu dem Leibniz zu gelangen noch nicht möglich war. Dazu waren in seiner Epoche die Vorstellungen über den rein naturgemäßen Ursprung von Eigenschaften der Leibesorganisation noch zu unvollkommen. Gegenwärtig ist dies anders. Man kann heute bis zu einem gewissen Grade naturwissenschaftlich erkennen, wie sich die organischen Leibeskräfte von den Vorfahren vererben und wie innerhalb dieser vererbten Kräfte des Organismus die Seele wirkt. Was von vielen, die glauben, auf dem rechten »naturwissenschaftlichen Standpunkte« zu stehen, allerdings nicht zugegeben wird, erweist sich doch beim richtigen Erfassen der |162 naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als notwendige Ansicht: daß alles, wodurch die Seele im physischen Leben wirkt, bedingt ist durch die Leibeskräfte, die in der physischen Vererbungslinie von den Vorfahren auf die Nachkommen übergehen, außer dem Inhalt des Seelischen selbst. So etwa kann man gegenwärtig den Leibnizischen Satz erweitern. Dann aber ist er die anthropologische Rechtfertigung der anthroposophischen Betrachtungsart. Dann verweist er die Seele darauf, ihren wesenhaften Inhalt in einer geistigen Welt zu suchen, und zwar durch eine andere Erkenntnisart als die in der Anthropologie übliche. Denn dieser ist nur zugänglich, was im gewöhnlichen Bewußtsein durch die Leibesorganisation erlebt wird. (100) |163

Man kann der Ansicht sein, Brentano hätte alle Vorbedingungen gehabt, um, von Leibniz ausgehend, sich den Blick auf das im Geiste verankerte Wesenhafte der Seele zu eröffnen, und das sich diesem Blick Ergebende durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der neueren Zeit zu erkräftigen. Wer seinen Ausführungen folgt, sieht den Weg, der vor ihm gelegen war. Es hätte der Weg zu einem rein geistig erkennbaren Seelenwesen vor ihm offenbar werden können, wenn er ausgebildet hätte, was im Bereiche seiner Aufmerksamkeit lag, als er solche Sätze niederschrieb wie diesen: »Aber wie ist« das »Eingreifen der |164 Gottheit« beim Erscheinen einer menschlichen Seele in einem Leib »zu denken? Hat sie, nachdem sie den geistigen Teil des Menschen von Ewigkeit schöpferisch hervorgebracht hatte, ihn nun mit einem Embryo in der Art verbunden, daß er, der bisher als besondere geistige Substanz für sich bestand, nun aufhörte, ein wirkliches Wesen für sich zu sein, und Teil einer menschlichen Natur wurde, oder hat sie ihn erst jetzt schöpferisch hervorgebracht? – Wenn Aristoteles das erste annahm, so mußte er glauben, daß derselbe Geist wieder und wieder mit anderen und anderen Embryonen verbunden werde; denn das Menschengeschlecht erhält sich nach ihm fortzeugend ins Unendliche, die Menge der von Ewigkeit bestehenden Geister kann aber nur eine endliche sein. Alle Ausleger sind nun darin einig, daß Aristoteles in der reiferen Zeit seines Philosophierens die Palingenese verworfen hat. Also ist diese Möglichkeit ausgeschlossen.« (101) Was nicht in der Gedankenfolge des Aristoteles liegt, die |165 Rechtfertigung des geistigen Blickes auf die wiederholten Leben der Menschenseele durch Palingenese: für Brentano hätte es sich ergeben können aus der Verbindung der durch Aristoteles verfeinerten Begriffe über die Seele mit den Erkenntnissen der neueren Naturwissenschaft. – Er hätte diesen Weg um so mehr gehen können, als er empfänglichen Sinn hatte für die Erkenntnislehre der mittelalterlichen Philosophie. Wer diese Erkenntnislehre wirklich erfaßt, der eignet sich eine Summe von Ideen an, die geeignet sind, die neueren naturwissenschaftlichen Ergebnisse zur geistigen Welt in eine Beziehung zu setzen, welche durch die Ideen der rein naturwissenschaftlich-anthropologischen Forschung nicht zu durchschauen ist. Was eine Vorstellungsart wie diejenige des Thomas von Aquino für die Vertiefung der Naturwissenschaft nach der geistigen Seite zu leisten vermag, das wird gegenwärtig in vielen Kreisen ganz verkannt. Man glaubt in solchen Kreisen, die neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bedingten eine Abkehr von dieser Vorstellungsart. Die Wahrheit ist, daß man zunächst das naturwissenschaftlich erkannte Wesenhafte der |166 Welt mit Gedanken umspannen will, welche bei genauerem Zusehen in sich unvollendet bleiben. Ihre Vollendung wäre, sie selbst als ein solches Wesenhaftes in der Seele zu denken, wie sie in der Vorstellungsart des Thomas von Aquino gedacht werden. Brentano befand sich auch auf dem Wege, ein rechtes Verhältnis zu dieser Vorstellungsart zu gewinnen. Schreibt er doch: »Als ich meine Abhandlung ›Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles‹ und später meine ›Psychologie des Aristoteles‹ schrieb, wollte ich in einer zweifachen Weise das Verständnis seiner Lehre fördern; einmal und vorzüglich direkt durch Aufhellung einiger der wichtigsten Lehrpunkte, dann indirekt, aber in allgemeinerer Weise, indem ich der Erklärung neue Hilfsquellen eröffnete. Ich machte auf die scharfsinnigen Kommentare des Thomas von Aquino aufmerksam und zeigte, wie man in ihnen manche Lehre richtiger als bei späteren Erklärern dargestellt findet.« (102) – Brentano verlegte sich |167 den Weg, der sich ihm durch solche Studien hätte darbieten können, durch seine Hinneigung zu der Vorstellungsart von Bacon, Locke und allem, was mit solch einer Vorstellungsart philosophisch zusammenhängt. Er hielt diese Vorstellungsart vor allem für die der naturwissenschaftlichen Forschungsweise gemäße. (103) Doch eben diese Vorstellungsart führt dazu, den Inhalt des Seelenlebens in völliger Abhängigkeit von der Sinneswelt zu denken. Und weil diese Denkweise nur anthropologisch vorgehen will, so kommt nur dasjenige als psychologisches Ergebnis in ihren Bereich, was in Wahrheit keine seelische Wirklichkeit ist, sondern nur ein Spiegelbild dieser Wirklichkeit, nämlich der Inhalt des gewöhnlichen Bewußtseins. – Hätte Brentano die Spiegelbild-Natur des gewöhnlichen Bewußtseins durchschaut: er hätte im Verfolg der anthropologischen Forschung nicht haltmachen können vor dem Tore, das in die |168 Anthroposophie führt. – Es wird gewiß dieser meiner Anschauung gegenüber die Meinung geltend gemacht werden können, Brentano habe eben der Gabe des geistigen Schauens ermangelt; deshalb habe er nicht den Übergang von Anthropologie zur Anthroposophie gesucht, wenn er auch durch seine besondere geistige Eigenart dazu getrieben worden ist, in interessanter Form die Seelenerscheinungen so verstandesgemäß zu charakterisieren, daß sich diese Form durch die Anthroposophie rechtfertigen läßt. Ich habe aber diese Meinung nicht. Ich bin nicht der Anschauung, daß geistiges Schauen nur als eine besondere Gabe für Ausnahmepersönlichkeiten erreichbar ist. Ich muß dieses Schauen für eine Fähigkeit der Menschenseele halten, die jeder sich aneignen kann, wenn er die zu ihr führenden seelischen Erlebnisse in sich wachruft. Und Brentanos Natur erscheint mir zu solchem Wach-Rufen ganz besonders geeignet. (104) Ich halte aber dafür, daß man |169 solches Wach-Rufen durch Theorien, die ihm widerstreben, verhindern kann. Daß man das Schauen nicht aufkommen läßt, wenn man sich in Ideen verstrickt, welche dessen Berechtigung von vorneherein in Frage stellen. Und Brentano hat das Schauen in seiner Seele dadurch nicht aufkommen lassen, daß bei ihm die Ideen, welche es in so schöner Art rechtfertigten, stets unterlagen denen, die es verwerfen, und die befürchten lassen, daß man durch dasselbe in »den labyrinthischen Gängen einer Pseudophilosophie sich verliere«. (105)

* * *

 

Von Seelenrätseln

1895 hat Brentano den Abdruck eines Vortrages erscheinen lassen, den er in der »Literarischen Gesellschaft in Wien« mit Rücksicht auf H. Lorms Buch »Der grundlose Optimismus« gehalten hat. (106) Dieser enthält seine Ansicht über »die vier Phasen der Philosophie und ihren augenblicklichen Stand«. |170 Brentano vertritt in diesen Ausführungen die Meinung, daß sich der Entwickelungsgang des philosophischen Forschens in einer gewissen Beziehung vergleichen lasse mit der Geschichte der schönen Künste. »Während andere Wissenschaften, so lange sie überhaupt betrieben werden, einen stetigen Fortschritt aufweisen, der nur einmal durch eine Zeit des Stillstandes unterbrochen wird, zeigt die Philosophie, wie die schöne Kunst, neben den Zeiten aufsteigender Entwickelung Zeiten der Dekadence, die oft nicht minder reich, ja reicher an epochemachenden Erscheinungen sind als die Zeiten gesunder Fruchtbarkeit.« (107) (Drei solcher Perioden, die von gesunder Fruchtbarkeit zur Decadence fortlaufen, unterscheidet Brentano im verflossenen Entwickelungsgang der Philosophie. Eine jede beginnt damit, daß aus dem reinen philosophischen Staunen über die Rätsel der Welt sich wahrhaft wissenschaftliches Interesse regt und dieses Interesse eine Erkenntnis aus echtem, reinem Wissenstrieb sucht. Auf diese gesunde Epoche folgt dann eine andere, in der das |171 erste Stadium des Verfalls erscheint. Da tritt das reine wissenschaftliche Interesse zurück und man sucht nach Gedanken, durch die man das soziale und persönliche Leben regeln und sich in denselben zurechtfinden kann. Die Philosophie will da nicht mehr dem reinen Erkenntnisstreben, sondern den Interessen des Lebens dienen. Ein weiterer Verfall tritt in der dritten Epoche ein. Man wird durch die Unsicherheit der Gedanken, die einem nicht reinen wissenschaftlichen Interesse entsprungen sind, an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis irre und verfällt in Skeptizismus. Die vierte Epoche ist dann diejenige des völligen Niederganges. Der Zweifel der dritten Epoche hat alle wissenschaftliche Grundlage der Philosophie unterhöhlt. Man sucht aus unwissenschaftlichen Untergründen in phantastischen, verschwimmenden Begriffen, durch mystisches Erleben zur Wahrheit zu kommen. Den ersten Entwickelungskreis denkt sich Brentano mit der griechischen Naturphilosophie beginnend; und mit Aristoteles, meint er, schließe die gesunde Phase ab. Anaxagoras schätzt er innerhalb dieser Phase besonders hoch ein. Er ist der Ansicht, daß, trotzdem |172 in dieser Zeit die Griechen in bezug auf viele wissenschaftliche Fragen ganz im Anfange standen, die Art ihres Forschens doch einen solchen Charakter hatte, der vor einer strengen naturwissenschaftlichen Denkungsart seine Rechtfertigung findet. Auf diese erste Phase folgen die Stoiker, die Epikuräer. Sie bringen schon einen Verfall. Sie wollen Ideen, die im Dienste des Lebens stehen. In der Neueren Akademie, besonders aber durch Änesidemus, Agrippa, Sextus Empirikus, sieht man den Skeptizismus allen Glauben an sichergestellte wissenschaftliche Wahrheiten austilgen. Und im Neuplatonismus, bei Ammonius Sakkas, Plotin, Porphyrius, Jamblichus, Proklus, tritt an die Stelle des wissenschaftlichen Forschens das in den labyrinthischen Gängen einer Pseudophilosophie sich ergehende mystische Erleben. – Im Mittelalter sieht man, wenn auch vielleicht nicht mit solcher Deutlichkeit, diese vier Phasen sich wiederholen. Mit Thomas von Aquino hebt eine philosophisch gesunde Vorstellungsart an, die den Aristotelismus in einer neuen Form aufleben läßt. In der darauf folgenden Zeit, deren Repräsentant Duns Scotus ist, herrscht durch eine ins |173 Ungeheuerliche getriebene Disputierkunst, eine Art Analogon zur ersten griechischen Verfallsperiode. Auf sie folgt der Nominalismus, der einen skeptischen Charakter trägt. Wilhelm von Occam verwirft die Ansicht, daß sich die allgemeinen Ideen auf etwas Wirkliches beziehen und gibt dadurch dem Inhalte der menschlichen Wahrheit nur den Wert einer außer der Wirklichkeit stehenden begrifflichen Zusammenfassung; während die Wirklichkeit nur in den individuellen Einzeldingen liegen soll. Dieses Analogon der Skepsis wird abgelöst durch die nicht in wissenschaftlichen Bahnen strebende Mystik der Eckhardt, Tauler, Heinrich Suso, des Verfassers der Deutschen Theologie und anderer. Dies sind die vier Phasen der philosophischen Entwickelung im Mittelalter. – In der Neuzeit beginnt mit Bacon von Verulam wieder eine gesunde, auf naturwissenschaftlichem Denken ruhende Entwickelung, in welcher dann Descartes, Locke, Leibniz fruchtbringend weiter wirken. Auf sie folgt die französische und englische Aufklärungsphilosophie, in denen Grundsätze, wie man sie für das Leben sympathisch fand, die Haltung des |174 philosophischen Gedankenganges beherrschten. Darauf tritt mit David Hume die Skepsis ein; und auf sie folgt die Phase des Niedergangs, die in England mit Thomas Reid, in Deutschland mit Kant einsetzt. Brentano betrachtet an Kants Philosophie eine Seite, die ihm gestattet, diese zusammenzubringen mit der Plotinschen Verfallsperiode der griechischen Philosophie. Er tadelt an Kant, daß dieser nicht wie ein wissenschaftlicher Forscher die Wahrheit in einer Übereinstimmung der Vorstellungen mit den wirklichen Gegenständen suche, sondern vielmehr darin, daß sich die Gegenstände nach dem menschlichen Vorstellungsvermögen richten sollen. Damit glaubt Brentano der Kantschen Philosophie eine Art mystischen Grundzuges zuschreiben zu müssen, der sich dann in der Verfallsphilosophie Fichtes, Schellings und Hegels in völliger Unwissenschaftlichkeit offenbart. – Einen neuen Aufschwung der Philosophie erhofft Brentano von einer wissenschaftlichen Arbeit innerhalb ihres Gebietes nach dem Muster der in der neueren Zeit herrschend gewordenen naturwissenschaftlichen Denkungsart. Zur Einleitung einer |175 solchen Philosophie hat er seine These aufgestellt: die wahre philosophische Forschungsart sei keine andere als die in der naturwissenschaftlichen Erkenntnisart anerkannte. (108) Ihr wollte er seine Lebensarbeit widmen.

Brentano sagt in der Vorrede zu dem Abdruck des Vortrages, in dem er diese Ansicht von den »vier Phasen der Philosophie« gegeben hat: diese »seine Auffassung der Geschichte der Philosophie mag manchen als neu befremden; mir selbst steht sie seit Jahren fest und wurde auch seit mehr als zwei Dezennien wie von mir, so von einigen Schülern in akademischen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie zugrunde gelegt. Daß sie Vorurteilen begegnen, und daß diese vielleicht zu mächtig sein werden, um beim ersten Anprall zu weichen, darüber ergebe ich mich keiner Täuschung. Immerhin hoffe ich von den vorgeführten Tatsachen und Erwägungen, daß sie bei dem, welcher denkend folgt, nicht ohne Eindruck bleiben können.« (109) |176

Daß man von diesen Ausführungen Brentanos einen bedeutenden Eindruck empfangen kann, ist durchaus meine Meinung. Insofern sie eine Klassifikation der im Laufe der philosophischen Entwickelung auftretenden Erscheinungen von einem gewissen Gesichtspunkte aus darbieten, beruhen sie auf gut begründeten Einsichten in diesen Entwickelungsgang. Die vier Phasen der Philosophie bieten Unterschiede, die in der Wirklichkeit begründet sind. – Sobald man aber in eine Betrachtung der in den einzelnen Phasen treibenden Kräfte eintritt, kann man nicht finden, daß Brentano diese Kräfte zutreffend charakterisiert. Sogleich bei seiner Ansicht über die erste Phase der Philosophie des Altertums tritt das zutage. Die Grundzüge der griechischen Philosophie von den jonischen Anfängen bis zu Aristoteles weisen gewiß viele Züge auf, welche Brentano das Recht geben, in ihnen eine naturwissenschaftliche Denkart in seinem Sinne zu sehen. Aber kommt denn diese Denkart wirklich durch dasjenige zustande, was Brentano die naturwissenschaftliche Methode nennt? Sind die Gedanken dieser griechischen Philosophen nicht |177 vielmehr ein Ergebnis dessen, was sie als das Wesen des Menschen und dessen Stellung zum Weltall in der eigenen Seele erlebten? (110) Wer sich diese Frage sachgemäß beantwortet, wird finden, daß die inneren Impulse für den Gedankengehalt dieser Philosophie gerade im Stoizismus, im Epikuräismus, in der ganzen praktischen Lebensphilosophie der späteren Griechenzeit zum unmittelbaren Ausdruck kamen. Man kann bemerken, wie in den Seelenkräften, welche Brentano in der zweiten Phase wirksam findet, der Ausgangspunkt liegt für die erste Phase der Philosophie des Altertums. Diese Kräfte waren der sinnlichen und sozialen Erscheinungsform |178 des Weltalls zugewendet und konnten daher in der Phase des Skeptizismus, der zum Zweifel an der unmittelbaren Wirklichkeit dieser Erscheinungsform getrieben wird und in der folgenden Phase des schauenden Erkennens, das über diese Form hinausgehen muß, nur unvollkommen auftreten. Aus diesem Grunde zeigen sich diese Phasen innerhalb der Philosophie des Altertums als solche des Verfalls. – Und welche Seelenkräfte wirken im philosophischen Entwickelungsgang des Mittelalters? Daß im Thomismus die Höhe dieses Entwickelungsganges liegt in bezug auf diejenigen Verhältnisse, die Brentano ins Auge faßt, wird niemand bezweifeln können, der die in Betracht kommenden Tatsachen wirklich kennt. Aber man kann doch nicht verkennen, daß durch den christlichen Standpunkt des Thomas von Aquino die in der griechischen Lebensphilosophie wirksamen Seelenkräfte nicht mehr bloß aus philosophischen Impulsen heraus wirken, sondern einen überphilosophischen Charakter angenommen haben. Welche Impulse aber wirken bei Thomas von Aquino, insoferne er Philosoph ist? Man braucht keine |179 Neigung für die Schwächen der nominalistischen Philosophen des Mittelalters zu haben; aber man wird doch finden können, daß die im Nominalismus wirkenden Seelenimpulse die subjektive Grundlage bilden auch für den thomistischen Realismus. Wenn Thomas die Allgemeinbegriffe, welche die Erscheinungen der Sinneswahrnehmungen zusammenfassen, als dasjenige erkennt, was sich auf ein geistig Wirkliches bezieht, so gewinnt er die Kraft zu dieser seiner realistischen Vorstellungsart aus dem Gefühl desjenigen heraus, was diese Begriffe, abgesehen davon, daß sie sich auf Sinneserscheinungen beziehen, in dem Dasein der Seele selbst bedeuten. Gerade weil Thomas die Allgemeinbegriffe nicht unmittelbar auf die Vorkommnisse des Sinnesdaseins bezog, empfand er, wie in sie eine andere Wirklichkeit hereinleuchtet und wie sie eigentlich für die Erscheinungen des Sinnenlebens nur Zeichen sind. Als dann im Nominalismus dieser Unterton des Thomismus als selbständige Philosophie auftrat, mußte er naturgemäß seine Einseitigkeit offenbaren. Das Gefühl, daß die in der Seele erlebten Begriffe einen ins Geistige gewandten Realismus |180 begründen, mußte schwinden, und das andere vorherrschend werden, daß die Allgemeinbegriffe bloße zusammenfassende Namen sind. Wenn man die Wesenheit des Nominalismus so auffaßt, versteht man auch die ihm vorangehende zweite Phase der mittelalterlichen Philosophie, den Skotismus, als einen Übergang zum Nominalismus. Man wird aber doch nicht umhin können, die ganze Kraft der mittelalterlichen Denkarbeit, insoferne sie Philosophie ist, aus der Grundauffassung heraus zu verstehen, die sich in einseitiger Art im Nominalismus gezeigt hat. Dann aber wird man zu der Ansicht kommen, daß die wirklich treibenden Kräfte dieser Philosophie in den Seelenimpulsen liegen, welche man im Sinne der Brentanoschen Klassifikation als der dritten Phase angehörig bezeichnen muß. Und in derjenigen Epoche, welche Brentano als die mystische Phase des Mittelalters kennzeichnet, tritt dann auch klar hervor, wie die ihr angehörigen Mystiker, durch die nominalistische Natur des begreifenden Erkennens bewogen, sich nicht an dieses, sondern an andere Seelenkräfte wenden, um zum Kerne der Welterscheinungen |181 vorzudringen. – Verfolgt man nun für die Philosophie der neueren Zeit die Wirksamkeit der treibenden Seelenkräfte an dem Faden der Brentanoschen Klassifikation, so findet man, daß die inneren Wesenszüge dieser Epoche ganz andere sind als diejenigen, welche von Brentano verzeichnet werden. Die Phase der naturwissenschaftlichen Denkart, welche Brentano durch Bacon von Verulam, Descartes, Locke, Leibniz verwirklicht findet, will sich gewisser ihr eigener Charakterzüge wegen durchaus nicht als rein naturwissenschaftlich im Brentanoschen Sinne denken lassen. Wie soll man dem Grundgedanken Descartes’ »Ich denke, also bin ich« rein naturwissenschaftlich beikommen; wie soll man Leibniz’ Monadologie oder dessen »vorbestimmte Harmonie« in die naturwissenschaftliche Vorstellungsart Brentanos hineinbringen? Auch die Brentanosche Auffassung der zweiten Phase, welcher er die französische und englische Aufklärungsphilosophie zuteilt, macht Schwierigkeiten, wenn man bei seinen Vorstellungen stehen bleiben will. Man wird dieser Epoche gewiß den Charakter einer Verfallszeit der Philosophie nicht absprechen |182 wollen; aber man kann sie verstehen aus der Tatsache heraus, daß in ihren Trägern die in der christlichen Lebensanschauung energisch wirksamen außerphilosophischen Seelenimpulse gelähmt waren, so daß ein Verhältnis zu den übersinnlichen Weltkräften philosophisch nicht gefunden werden konnte. Zugleich wirkte die nominalistische Skepsis des Mittelalters noch nach, wodurch verhindert wurde, daß eine Beziehung des seelisch erlebten Erkenntnis-Inhaltes zu einem geistig Wirklichen gesucht wurde. – Und schreitet man dann zu dem neuzeitlichen Skeptizismus und derjenigen Vorstellungsweise fort, die Brentano einer mystischen Phase zueignet, dann verliert man die Möglichkeit, seiner Klassifikation noch zuzustimmen. Gewiß muß man die skeptische Phase mit David Hume beginnen lassen. Aber Kant, den Kritiker, als Mystiker kennzeichnen, erweist sich denn doch als stark einseitige Charakteristik. Und die Philosophien Fichtes, Schellings, Hegels und anderer Denker der auf Kant folgenden Zeit lassen sich nicht als mystische fassen, besonders, wenn man den Brentanoschen Begriff der Mystik zugrunde legt. Man wird vielmehr |183 gerade im Sinne der Brentanoschen Klassifikation von David Hume über Kant, bis zu Hegel einen gemeinsamen Grundzug finden. Dieser besteht in der Ablehnung, auf Grund derjenigen Vorstellungen, die aus der Sinneswelt gewonnen sind, das philosophische Weltbild einer wahren Wirklichkeit zu zeichnen. So paradox es scheint, Hegel einen Skeptiker zu nennen: er ist es doch in dem Sinne, daß er den Vorstellungen, welche der Natur entnommen sind, keinen unmittelbaren Wirklichkeitswert zuschreibt. Man weicht von dem Brentanoschen Begriff des Skeptizismus nicht ab, wenn man die Entwickelung der Philosophie von Hume bis Hegel als die Phase des neuzeitlichen Skeptizismus auffaßt. Die vierte neuzeitliche Phase kann man erst nach Hegel beginnen lassen. Was in ihr als naturwissenschaftliche Vorstellungsart auftritt, wird aber Brentano sicherlich nicht in die Nähe des Mystizismus bringen wollen. Doch man fasse ins Auge, in welcher Art Brentano selbst sich mit seinem Philosophieren in diese Epoche hineinstellen will. Mit einer kaum zu überbietenden Energie fordert er für die Philosophie eine naturwissenschaftliche Methode. In seiner |184 psychologischen Forschung strebt er die Innehaltung dieser Methode an. Und was er zutage fördert, ist eine Rechtfertigung der Anthroposophie. Was als Fortsetzung seines anthropologischen Strebens auftreten müßte, wenn er im Sinne des von ihm Vorgestellten weiter schritte, wäre Anthroposophie. Allerdings eine Anthroposophie, welche mit der naturwissenschaftlichen Denkungsart in voller Harmonie steht. – Ist nicht Brentanos Lebensarbeit selbst der vollgültigste Beweis dafür, daß die vierte Phase der neuzeitlichen Philosophie ihre Impulse aus denjenigen Seelenkräften ziehen muß, welche der Neuplatonismus ebenso wie die Mystik des Mittelalters betätigen wollten, aber nicht konnten, weil sie mit dem inneren Seelenwirken nicht bis zu einem solchen Erleben der geistigen Wirklichkeit zu kommen vermochten, das in völliger bewußter Klarheit des Denkens (oder der Begriffe) sich vollzieht? Wie die griechische Philosophie ihre Kraft aus den Seelenimpulsen schöpfte, welche Brentano in der zweiten philosophischen Phase sich verwirklichen sieht, aus der praktischen Lebensphilosophie; wie die mittelalterliche Philosophie |185 den Impulsen der dritten Phase, dem Skeptizismus ihre Stärke verdankt; so muß die neuzeitliche Philosophie ihre Impulse aus den Grund-Kräften der vierten Phase holen, aus dem erkennenden Schauen. Darf also Brentano in dem Neuplatonismus und in der mittelalterlichen Mystik Verfallsphilosophien in Gemäßheit seiner Vorstellungsart annehmen, so könnte man in der die Anthropologie ergänzenden Anthroposophie die fruchtbare Phase der neueren Philosophie anerkennen, wenn man dieses Philosophen eigene Ideen über Philosophie-Entwickelung zu den Konsequenzen führt, die er nicht selbst gezogen hat, die aber ganz ungezwungen sich aus ihnen ergeben.

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In dem gekennzeichneten Verhältnis Brentanos zu den Erkenntnis-Forderungen der Gegenwart ist es wohl gelegen, daß man beim Lesen seiner Schriften Eindrücke empfängt, welche sich nicht in dem erschöpfen, was der unmittelbare Inhalt der von ihm vorgebrachten Begriffe enthält. Es klingen in dieses Lesen überall Untertöne hinein. Diese |186 kommen aus einem Seelenleben, das hinter den ausgesprochenen Ideen weit zurückliegt. Was Brentano im Geiste des Lesers anregt, ist oft stärker in diesem wirksam, als das von dem Verfasser in scharf umrissenen Vorstellungen Gesagte. Man fühlt sich auch veranlaßt, oftmals zum Lesen einer Brentanoschen Schrift zurückzukehren. Man kann vieles von dem durchdacht haben, was gegenwärtig über das Verhältnis der Philosophie zu andern Erkenntnisvorstellungen gesagt wird; Brentanos Schrift »Über die Zukunft der Philosophie« wird bei solchem Durchdenken fast immer in der Erinnerung auftauchen. Diese Schrift gibt einen Vortrag wieder, den er in der »Philosophischen Gesellschaft« in Wien 1892 gehalten hat, um seine Auffassung über die Zukunft der Philosophie den hierauf bezüglichen Ansichten entgegenzuhalten, welche der Rechtsgelehrte Adolf Exner in einer Inaugurationsrede über »politische Bildung« (1891) vorgebracht hatte. (111) Der Abdruck |187 des Vortrages ist mit »Anmerkungen« versehen, die weitweisende geschichtliche Ausblicke in den geistigen Entwickelungsgang der Menschheit geben. – In dieser Schrift klingt alles an, was sich dem Betrachter der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart über die Notwendigkeit ergeben kann, von dieser Vorstellungsart aus zu einer anthroposophischen fortzuschreiten.

Die Träger dieser naturwissenschaftlichen Vorstellungsart leben zumeist in dem Glauben, daß sie ihnen von dem wirklichen Sein der Dinge selbst aufgedrängt ist. Sie sind der Meinung, daß sie ihre Erkenntnisse so einrichten, wie die Wirklichkeit sich offenbart. Doch dieser Glaube ist eine Täuschung. Die Wahrheit ist, daß in der neueren Zeit die menschliche Seele aus ihrer eigenen, im Laufe der Jahrtausende tätigen Entwickelung heraus Bedürfnisse nach solchen Vorstellungen entfaltet hat, welche das naturwissenschaftliche Weltbild ausmachen. Helmholtz, Weisman, Huxley und andere sind zu ihren Vorstellungen |188 nicht deshalb gekommen, weil die Wirklichkeit ihnen diese als die absolute Wahrheit gegeben hat, sondern weil sie in sich diese Vorstellungen bilden mußten, um durch sie auf die ihnen entgegentretende Wirklichkeit ein gewisses Licht zu werfen. Man formt sich ein mathematisches oder mechanisches Weltbild nicht, weil eine außerseelische Wirklichkeit dazu zwingt, sondern weil man in seiner Seele die mathematischen und mechanischen Vorstellungen ausgebildet und sich dadurch eine innere Beleuchtungsquelle für das eröffnet hat, was in der Außenwelt auf mathematische und mechanische Art sich offenbart. – Obgleich nun im allgemeinen das eben Gekennzeichnete für jede Entwickelungsstufe der menschlichen Seele gilt: es erscheint an den neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungen noch auf eine besondere Weise. Diese Vorstellungen vernichten, wenn sie folgerecht von einer Seite durchdacht werden, die Begriffe über das Seelische. An dem durchaus nicht unerheblichen aber höchst fragwürdigen Begriffe einer »Seelenlehre ohne Seele«, der nicht von philosophischen Dilettanten allein, sondern von sehr ernsten Denkern |189 gebildet worden ist, zeigt sich dieses. (112) Solche Vorstellungen bringen dazu, die Erscheinungen des gewöhnlichen Bewußtseins in ihrer Abhängigkeit von der Leibesorganisation immer mehr zu durchschauen. Wird damit nicht zugleich erkannt, daß in dem, was in dieser Art als Seelisches auftritt, nicht dieses selbst, sondern nur dessen Spiegelbild sich offenbart, dann entwindet sich der Betrachtung die wirkliche Idee des Seelischen und die Schein-Idee tritt auf, die in dem Seelischen nur sieht, was Ergebnis der Leibesorganisation ist. Nun läßt sich anderseits für das unbefangene Denken die letztere Ansicht aber doch nicht halten. Die Ideen, welche die Naturwissenschaft über die Natur bildet, erweisen vor diesem unbefangenen Denken ihren seelischen Zusammenhang mit einer hinter der Natur liegenden Wirklichkeit, |190 der in diesen Ideen selbst sich nicht offenbart. Keine anthropologische Betrachtungsart kann von sich aus zu erschöpfenden Vorstellungen über diesen Zusammenhang kommen. Denn er tritt nicht in das gewöhnliche Bewußtsein herein. – Diese Tatsache tritt bei den gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen stärker zutage als bei geschichtlich vergangenen Erkenntnisstufen. Die letzteren bildeten bei der Beobachtung der Außenwelt noch Begriffe, welche in ihren Inhalt etwas von der geistigen Unterlage dieser Außenwelt hereinnahmen. Und die Seele fühlte sich in ihrer eigenen Geistigkeit mit dem Geiste der Außenwelt als in einer Einheit. Die neuere Naturwissenschaft muß, ihrem Wesen nach, die Natur eben rein naturgemäß denken. Dadurch gewinnt sie die Möglichkeit, wohl den Inhalt ihrer Ideen durch die Naturbeobachtung zu rechtfertigen, nicht aber das Dasein dieser Ideen als inneres Seelisch-Wesenhaftes selbst. – Aus diesem Grunde ist gerade die echt naturwissenschaftliche Vorstellungsart ohne allen Boden, wenn sie ihr eigenes Dasein nicht rechtfertigen kann durch eine |191 anthroposophische Beobachtung. Mit Anthroposophie kann man in uneingeschränkter Art sich zu der naturwissenschaftlichen Vorstellungsweise bekennen; ohne Anthroposophie wird man immer aufs neue den vergeblichen Versuch machen wollen, aus naturwissenschaftlichen Beobachtungsergebnissen heraus selbst den Geist zu entdecken. Die naturwissenschaftlichen Ideen der neueren Zeit sind eben Erzeugnisse des Zusammenlebens der Seele mit einer geistigen Welt; aber wissen kann die Seele von diesem Zusammenleben nur in lebendiger Geistbetrachtung. (113)

 

Man könnte leicht auf die Frage kommen: Warum sucht denn die Seele naturwissenschaftliche Vorstellungen auszubilden, wenn sie sich dadurch geradezu einen Inhalt schafft, |192 der sie von ihrer Geist-Grundlage abschneidet? Vom Standpunkt einer solchen Meinung, welche die naturwissenschaftlichen Vorstellungen deshalb gebildet glaubt, weil die Welt nun einmal ihnen gemäß sich offenbart, läßt sich auf diese Frage keine Antwort finden. Wohl aber ergibt sich eine solche, wenn man auf die Bedürfnisse des seelischen Lebens selbst sieht. Mit Vorstellungen, wie sie eine vornaturwissenschaftliche Zeit allein ausgebildet hat, könnte das seelische Erleben niemals zum vollen Bewußtsein seiner selbst gelangen. Es würde zwar in den Natur-Ideen, die Geistiges mitenthalten, einen unbestimmten Zusammenhang mit dem Geiste erfühlen, nicht aber des Geistes volle, unabhängige Eigenart erleben können. Es strebt daher das Seelische im Entwickelungsgang der Menschheit nach der Aufstellung solcher Ideen, welche dieses Seelische selbst nicht enthalten, um an ihnen sich selbst unabhängig vom Naturdasein zu wissen. Der Zusammenhang mit dem Geiste muß aber dann nicht durch diese Natur-Ideen, sondern durch geistiges Schauen erkennend gesucht werden. Die Ausbildung der neueren |193 Naturwissenschaft ist eine notwendige Stufe im Seelen-Entwickelungsgange der Menschheit. Man erkennt ihre Grundlage, wenn man einsieht, wie die Seele ihrer bedarf, um sich selbst zu finden. Man erkennt auf der anderen Seite ihre erkenntnistheoretische Tragweite, wenn man durchschaut, wie gerade sie das geistige Schauen zu einer Notwendigkeit macht. (114)

Adolf Exner, gegen dessen Meinung Brentanos Schrift »Die Zukunft der Philosophie« gerichtet ist, stand einer Naturwissenschaft gegenüber, welche zwar die Natur-Ideen rein ausbilden will, die aber nicht bereit ist, zur Anthroposophie fortzuschreiten, wenn es sich um die Erfassung der seelischen Wirklichkeit handelt. Er fand die »naturwissenschaftliche Bildung« unfruchtbar für die Ausgestaltung der Ideen, die im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen wirken müssen. |194 fordert daher eine Denkungsart für die Lösung der dem kommenden Zeitalter bevorstehenden Fragen des Gesellschaftslebens, die nicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage ruht. Er findet, daß die großen juristischen Fragen, welchen das Römertum gegenüberstand, von diesem gerade deshalb so fruchtbringend gelöst worden sind, weil die Römer für naturwissenschaftliche Vorstellungsart wenig Begabung hatten. Und er versucht zu zeigen, daß das achtzehnte Jahrhundert trotz seiner Neigung zu naturwissenschaftlicher Denkungsart sich der Bezwingung der Gesellschaftsfragen wenig gewachsen gezeigt hat. Exner richtet seinen Blick auf eine naturwissenschaftliche Vorstellungsart, die nicht um ihre eigenen Grundlagen wissenschaftlich bemüht ist. Man kann verstehen, daß er einer solchen gegenüber zu seinen Ansichten gekommen ist. Denn sie muß ihre Ideen so ausgestalten, daß diese das Naturgemäße in seiner Reinheit vor die Seele führen. Aus ihnen läßt sich kein Impuls für Gedanken gewinnen, die im Gesellschaftsleben fruchtbar sind. Denn innerhalb dieses Lebens stehen Seelen den Seelen als solchen gegenüber. Ein solcher Impuls |195 kann sich nur ergeben, wenn das Seelische in seiner geistigen Art durch erkennendes Schauen erlebt wird, wenn die naturwissenschaftlich-anthropologische Betrachtung in der anthroposophischen ihre Ergänzung findet. – Brentano trug in seiner Seele Ideen, die durchaus in das anthroposophische Gebiet münden, trotzdem er nur im Anthropologischen bleiben wollte. Deshalb sind seine Ausführungen gegen Exner von durchschlagender Kraft, auch wenn Brentano den Übergang zur Anthroposophie nicht selbst machen will. Sie zeigen, wie Exner gar nicht von dem spricht, was eine sich selbst verstehende naturwissenschaftliche Vorstellungsart wirklich vermag, sondern wie er einen Windmühlenkampf führt gegen eine sich selbst mißverstehende Denkart. Man kann Brentanos Schrift lesen und überall durchfühlen, wie berechtigt alles ist, was durch seine Ideen in diese oder jene Richtung weist, ohne daß man findet, er spreche restlos aus, worauf er verweist.

Mit Franz Brentano ist eine Persönlichkeit hinweggegangen, welche in ihrem Werke zu erleben einen unermesslichen Gewinn bedeutet. Dieser Gewinn ist völlig unabhängig von dem |196 Grade der verstandesgemäßen Übereinstimmung, die man diesem Werke entgegenbringen kann. Denn er entspringt aus den Offenbarungen einer Menschenseele, die viel tiefer in der Welt-Wirklichkeit ihren Ursprung haben, als die Sphäre ist, in welcher im gewöhnlichen Leben sich Verstandes-Übereinstimmungen finden. Und Brentano ist eine Persönlichkeit, bestimmt fortzuwirken im geistigen Entwickelungsgang der Menschheit, durch Impulse, die sich nicht in der Fortführung der von ihm entwickelten Ideen erschöpfen. Ich kann mir gut vorstellen, wie jemand durchaus nicht mit dem einverstanden ist, was ich über Brentanos Verhältnis zur Anthroposophie hier ausgeführt habe; daß man aber, auf welchem wissenschaftlichen Standpunkte man auch stehe, zu weniger verehrenden Empfindungen dem Werte von Brentanos Persönlichkeit gegenüber kommen kann als die sind, welche den Absichten meiner Ausführungen zugrunde liegen, scheint mir unmöglich, wenn man den philosophischen Geist auf sich wirken läßt, der durch die Schriften dieses Mannes weht.

 

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