Die Philosophie
Vorwort und Einleitung.
(Gedankenwelt, Persönlichkeit, Volkheit)
VM, 3-20
Aus Anschauungen, die sich im Laufe von fünfunddreißig Jahren in mir über Gedankenwelten einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten gebildet haben, legte ich einiges Vorträgen zum Grunde, die ich in dieser schicksaltragenden Zeit in mitteleuropäischen Städten zu halten hatte. Von solchen Persönlichkeiten wollte ich reden, in deren Gedanken die drängenden Lebensfragen nach Lösung suchen und in deren geistigem Ringen zugleich das Wesen der deutschen Volkheit sich offenbart. Was ich so aussprach, möchte ich auch zu den Leitgedanken dieser Schrift machen. Sie soll vom Suchen des Menschengeistes nach Erkenntnis seines Wesens sprechen in Anknüpfung an solche Suchende, die nicht persönlichen Erkenntnis-Liebhabereien oder aus der Willkür geborenen ästhetisierenden Neigungen nachgingen, sondern Gedanken, die aus einem unwiderstehlichen gesunden Drang der |4 Menschennatur erstehen und die bodenständig sind in den Gemütsbedürfnissen der Volkheit trotz der Geisteshöhe, nach der sie streben. Allerdings wird von Persönlichkeiten die Rede sein, denen oft der Sinn abgesprochen wird für die Wirklichkeiten des Lebens von denjenigen, die nicht anerkennen wollen, daß der Mensch von der Wirklichkeitsoberfläche verwirrt und lebensuntüchtig gemacht wird, wenn er ihr nicht gegenübertreten kann mit Anschauungen über den Geist, der in Wirklichkeitstiefen waltet. Nach Erkenntnis des Geistes ringende Gedanken stoßen oft eine Seelenverfassung ab, die gar zu gerne sich auf Goethe berufen möchte, indem sie solchen Gedanken gegenüberhält: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, – und grün des Lebens goldner Baum.« Sie achtet dabei nicht darauf, daß Goethes Humor diese Worte gebraucht, um dem Teufel eine Belehrung in den Mund zu legen, welche dieser für einen Schüler gut findet. – Ein lebentragender Gedanke wird dadurch nicht betroffen, daß ihn eine der menschlichen Denkbequemlichkeit schmeichelnde Ansicht für grau hält, weil sie die Grauheit ihrer eigenen Theorie für goldigen Glanz des grünen Lebensbaumes hinnimmt.
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Es widerstrebt der Empfindung mancher Menschen, von der Einwirkung einer Volkheit auf die Weltanschauungen der aus dieser Volkheit entsprossenen Persönlichkeiten zu sprechen. Denn sie meinen, das widerspräche doch der selbstverständlichen Wahrheit, daß Erkenntnis des Wahren ein bei allen Menschen in gleicher Art vorhandenes Lebensgut sei. Daß dies sich so verhält, ist wirklich so selbstverständlich, wie daß der Sonnenschein und der Mondenschein allen Menschen der Erde gleich erstrahlen. Und unbestreitbar gilt es ebenso für die höchsten Gedanken der Weltanschauung wie für das »Zweimal zwei ist vier« der Alltäglichkeit, daß die Wahrheit nicht nach Menschen- und Völkerart verschieden sich gestalten könne. Aber eben weil dies so selbstverständlich ist, sollte nicht vorausgesetzt werden – ohne weiteres Hinsehen auf das, was gemeint ist – daß jemand dies Selbstverständliche außer acht läßt, der im Wesen der Denker eines Volkes sucht nach den Wurzeln der Volkheit, aus der sie entstammen. Der Menschengeist lebt doch nicht nur in der abstrakten Prägung gewisser Begriffe; er schöpft sein Leben auch aus den Kräften, die Seelen aus ihren vertraulichsten Erfahrungen heraus mit den aus ihnen geborenen Einsichten mittönen lassen. Goethe empfand so, als er an |6 einen Freund schrieb: »Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.« Goethe weiß, wie sogar das schon Entdeckte in neuem Lichte wiedergefunden werden kann, wenn es in einer neuen Art geschaut wird. Und was die Menschheit an Gedanken für ihr geistiges Leben über die Erkenntnisfragen entwickelt, das spricht nicht nur von dem, was Menschen suchen, sondern auch davon, wie sie suchen. In solchen Gedanken fühlt der dafür Empfängliche den Seelenpuls, der von dem Leben kündet, aus dem sie in die Vernunft hinein strahlen. So wahr es ist, daß man in einem Gedanken auch seinen Denker kennen lernt, so einleuchtend ist, daß man in einem Denker die Volkheit schauen kann, aus der der Denker aufgestiegen ist. – Welch ein Wahrheitsgehalt einem Gedanken innewohnt und ob eine Vorstellung aus den Wurzeln echter Wirklichkeit erwachsen ist: darüber können sicherlich nur die von Ort und Zeit unabhängigen Erkenntniskräfte entscheiden. Doch ob ein bestimmter Gedanke, ob eine den Menschengeist in eine gewisse Richtung lenkende Idee innerhalb einer Volkheit auftaucht, das liegt |7 an den Quellen, aus denen der Geist dieser Volkheit schöpfen darf. Karl Rosenkranz wollte über die Wahrheit der Gedanken Hegels gewiß nichts aus der Tatsache beweisen, daß er diese Gedanken in Zusammenhang brachte mit dem deutschen Volksgeist, als er 1870 sein Buch schrieb: »Hegel als deutscher Nationalphilosoph«. Er hatte die Ansicht, die er schon in seiner Beschreibung des Lebens Hegels ausgesprochen hat: »Eine wahre Philosophie ist die Tat eines Volkes … Aber für die Philosophie, insofern sie Philosophie ist, kommt es zugleich auf die Eigenheit des volkstümlichen Ursprungs gar nicht an. Hier hat die Allgemeinheit und Notwendigkeit ihres Inhaltes und die Vollendung seines Beweises allein Bedeutung. Ob das Wahre von einem Griechen oder Germanen, von einem Franzosen oder Engländer erkannt und ausgesprochen wird, hat für es selbst, als Wahres, kein Gewicht. Jede wahre Philosophie ist daher als nationale zugleich eine allgemeine menschliche und im großen Gang der Menschheit ein unentbehrliches Glied. Sie hat das Vermögen der absoluten Verbreitungsfähigkeit durch alle Völker und es kommt für ein jedes die Zeit, wo es die wahrhafte Philosophie der andern Völker sich aneignen muß, will es anders seinen eigenen Fortschritt sichern und fördern.«
Es kann die Empfindung, die man gegen das |8 Volkstümliche von Weltanschauungsgedanken hat, auch noch anders geartet sein. Man kann aus der Anerkennung der Volkstümlichkeit solcher Gedanken einen Einwand gegen ihren Erkenntniswert bilden. Man kann meinen, daß sie dadurch auf das Feld der Phantasie gedrängt werden und man von ihnen sprechen müsse wie etwa von deutscher Dichtung, während es unzulässig sei, von deutscher Mathematik oder deutscher Physik in demselben Sinne zu reden. Es gibt Menschen, die in jeder Weltanschauung – jeder Philosophie – eine Begriffsdichtung sehen. Diese brauchen sich mit dem Einwand, der aus der angedeuteten Empfindung ersteht, nicht zu beschäftigen. Doch die Ausführungen dieser Schrift sind nicht von solchem Gesichtspunkte aus geschrieben. Sie stellt sich auf den andern, daß im Ernste niemand von einer Weltanschauung sprechen kann, der ihr nicht einen Erkenntniswert zuerkennt, der nicht voraussetzt, daß ihre Gedanken aus Wirklichkeiten stammen, die allen Menschen gemeinsam sind. Man kann auch sagen, das sei im allgemeinen richtig; aber eine allen Menschen gemeinsam geltende Weltanschauung sei ein Ideal, das noch nirgends verwirklicht ist; alle bestehenden Weltanschauungen tragen an sich, was aus der Unvollkommenheit der Menschennatur ihnen aufgedrückt |9 ist. Auf eine Besprechung der aus solchem Grunde bestehenden Unvollkommenheit der Weltanschauungen kann hier verzichtet werden. Denn es sollen nicht etwa aus der Volkstümlichkeit von Weltanschauungsgedanken Entschuldigungen für deren Schwäche, sondern Gründe für deren Stärke gesucht werden. Daher kann die Behauptung hier außer Betracht bleiben, daß eben die Denker wie von ihren persönlichen Standpunkten, so auch von dem abhängig sind, was ihnen aus ihrer Volkheit anhaftet; und daß sie eben deshalb nicht zu einer allgemein-menschlichen Weltanschauung durchdringen können. Diese Schrift spricht von einer Reihe von Persönlichkeiten in dem Sinne, daß deren Gedanken wirklich allgemein-menschliche Geltung zuerkannt wird. Von dem, was als Irrtümer oder einseitige Ansichten gekennzeichnet wird, nur insofern, als man darin Umwege zur Wahrheit sehen kann. Könnte aus der erwähnten Empfindung heraus ein unbedingt geltender Einwand entspringen, so hätte er Berechtigung gegenüber der Art, wie in dieser Schrift Weltanschauungsgedanken mit dem Wesen der deutschen Volkheit in Verbindung gebracht werden.
Was dieser Empfindung aber entgegengehalten werden muß, durchschaut man nur, wenn man sich von einem Glauben abbringen kann, der auch |10 in anderer Richtung schwerwiegende Täuschungen hervorruft. Es ist der Glaube, die vielartigen Gedankengestaltungen der in Weltanschauungsfragen forschenden Denker seien wirklich eben so viele verschiedene Weltanschauungen, die miteinander nicht bestehen können.
Aus diesem Glauben heraus bekämpft oft der naturwissenschaftlich Gesinnte den Mystiker, der Mystiker den naturwissenschaftlich Gesinnten. Der eine meint, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seien allein wahre Ergebnisse der Wirklichkeitsforschung; aus ihnen müsse man die Gedanken gewinnen, welche für Welt und Leben Verständnis bringen können, so weit dieses Verständnis von dem Menschen erreichbar ist. Der andere bekennt sich zu der Ansicht, das wahre Wesen der Welt erschließe sich nur dem mystischen Erleben, und die Gedanken des naturwissenschaftlich Gesinnten können an die echte Wirklichkeit nicht herankommen. Der »Monist« ist nur zufrieden, wenn eine einheitliche Grundlage für die stoffliche und die geistige Welt vorgestellt wird. Entweder es erblickt die eine Art der Monisten diese Grundlage in den Stoffen und ihren Wirkungen, so daß ihnen die geistigen Erscheinungen zu Offenbarungen der stofflichen Welt werden. Oder andere Monisten gestehen nur dem |11 Geiste wahres Sein zu und glauben, alles Stoffliche sei nur eine Art des Geistigen. Der Dualist sieht in einer solchen Vereinheitlichung ein Verkennen sowohl des Wesens des Stoffes wie auch des Geistes. Nach seiner Ansicht müssen die beiden als für sich mehr oder weniger selbständige Weltgebiete betrachtet werden. – Es käme eine lange Reihe zustande, wenn man auch nur die hervorragendsten dieser vermeintlichen Weltanschauungen kennzeichnen wollte. Nun gibt es ja viele Menschen, die meinen, über alles Reden von Weltanschauung hinausgekommen zu sein. Diese sagen: ich richte mich in der Erkenntnis nach dem, was ich in der Wirklichkeit finde; was eine Weltanschauung davon hält, darum kümmere ich mich nicht. Das glauben sie zwar; allein ihr Verhalten zeigt etwas völlig anderes. Sie bekennen sich mehr oder weniger bewußt, oder auch unbewußt, doch in der allerentschiedensten Art zu einer solchen Weltanschauung. Wenn sie diese auch nicht unmittelbar aussprechen oder denken, so entwickeln sie ihre Vorstellungen in deren Richtung und bekämpfen, lehnen ab oder behandeln die Vorstellungen anderer Menschen so, wie es einer solchen »Weltanschauung« entspricht.
Dem bewußten oder unbewußten Glauben an solche vermeintliche Weltanschauungen liegt eine |12 Täuschung zum Grunde über das Verhältnis des Menschen zur außermenschlichen Welt. Der in dieser Täuschung Befangene hält nicht recht auseinander, was der Mensch von der Außenwelt für die Gestaltung der Gedanken empfängt, und was er aus sich selbst herausholt, wenn er Gedanken bildet.
Bemerkt man, daß zwei Denker verschiedene Gedanken über die Fragen des Lebens aussprechen, so hat man allzuleicht das Gefühl: wenn die beiden mit ihren Gedanken die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke brächten, so müßten sie ein Gleiches, nicht verschiedenes sagen. Und man denkt, die Verschiedenheit könne nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in der persönlichen (subjektiven) Auffassungsart der Denker ihre Gründe haben. Wenn dies auch nicht immer offen bekannt wird von den Menschen, die über Weltanschauungen sprechen, so liegt diese Meinung dem Geiste und der Haltung ihres Redens doch mehr oder weniger bewußt, oder auch unbewußt zum Grunde. Ja, die Denker selbst leben zumeist in einer solchen Befangenheit. Sie sprechen ihre Gedanken über das aus, was sie für Wirklichkeit halten, sehen diese Gedanken für ihr »System« einer rechten Weltanschauung an und glauben, eine andere Gedankenrichtung beruhe auf der persönlichen |13 Eigenart des Denkers. – Die Darstellung dieser Schrift hat eine andere Ansicht zu ihrem Hintergrunde. (Diese Ansicht kann an dieser Stelle zunächst allerdings nur wie eine Behauptung vorgebracht werden. Ich hoffe, daß man in der Schrift selbst einiges zu ihrer Begründung werde finden können. In einem großen Teile meiner andern Schriften habe ich mich bemüht, manches weitere zu dieser Begründung beizutragen.) Zwei voneinander abweichende Gedankenrichtungen können, ihrem Wesen nach, oftmals nur dadurch begriffen werden, daß man ihre Verschiedenheit so ansieht, wie die Verschiedenheit, zum Beispiele, zweier Bilder eines Baumes, die von zwei Richtungen her durch einen Photographierapparat aufgenommen sind. Die Bilder sind verschieden; aber ihre Verschiedenheit beruht nicht auf dem Wesen des Apparates, sondern auf der Stellung des Baumes zum Apparat. Und diese ist etwas ebenso außerhalb des Apparates Liegendes wie der Baum selbst. Die Bilder sind beide wahre Ansichten von dem Baume. Das Abweichende zweier Weltanschauungen hindert nicht, daß beide die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke bringen. – Die Wirrnis der Ideen entsteht, wenn die Menschen dieses nicht durchschauen. Wenn sie sich zu Materialisten, Idealisten, Monisten, Dualisten, Spiritualisten, Mystikern |14 oder gar – Theosophen machen, oder von anderen gemacht werden, und damit ausgedrückt werden soll: man käme nur zu einer wahren Ansicht über die Quellen des Lebens, wenn man seine ganze Denkweise im Sinne eines dieser Begriffe abstimmt. Aber es ist die Wirklichkeit selbst, die von der einen Seite her durch materialistische Ideen erkannt sein will; von einer anderen durch geistgemäße, von einer dritten als Einheit (Monon), von einer weiteren als Zweiheit. Der denkende Mensch möchte durch eine Vorstellungsart das Wesen der Wirklichkeit umfassen. Und wenn er bemerkt, daß er dieses umsonst unternimmt, so behilft er sich damit, daß er sagt: alle Vorstellungen über die Wurzeln des wirklichen Lebens sind persönlich (subjektiv) gestaltet, und das Wesen des »Dinges an sich« bleibt unerkennbar. – Aus wie vielen Verwirrungen des Gedankenlebens heraus führte doch die Erkenntnis, daß gar mancher Mensch über eine von der seinigen abweichende Weltanschauung so spricht, wie einer, der das von einer Seite her aufgenommene Bild eines Baumes kennt, und der, gestellt vor ein von anderer Seite her erhaltenes, nicht zugeben will, daß dies ein »richtiges« Bild desselben Baumes ist!
Viele, die sich Lebenspraktiker dünken, trösten sich über solch quälende Weltanschauungsfragen |15 allerdings dadurch hinweg, daß sie sagen: lasset diejenigen über diese Dinge streiten, die dazu Muße und Lust haben; dem wahren Leben schadet dies nichts; das braucht sich darum nicht zu bekümmern. Aber so sprechen können doch nur diejenigen Menschen, welche gar nicht ahnen, wie weit ihre Vorstellungen von den wirklichen Triebkräften des Lebens entfernt sind. Es sind dies diejenigen Menschen, deren Bild Johann Gottlieb Fichte vor der Seele stand, als er die Worte sprach: »Indes man in demjenigen Umkreise, den die gewöhnliche Erfahrung um uns gezogen, allgemeiner selbst denkt und richtiger urteilt, als vielleicht je, sind die mehrsten völlig irre und geblendet, sobald sie auch nur eine Spanne über denselben hinausgehen sollen. Wenn es unmöglich ist, in diesen den einmal ausgelöschten Funken des höheren Genius wieder anzufachen, muß man sie ruhig in jenem Kreise bleiben, und insofern sie in demselben nützlich und unentbehrlich sind, ihnen ihren Wert in und für denselben ungeschmälert lassen. Aber wenn sie darum nun selbst verlangen, alles zu sich herabzuziehen, wozu sie sich nicht erheben können, wenn sie z.B. fordern, daß alles Gedruckte sich als ein Kochbuch, oder als ein Rechenbuch, oder als ein Dienstreglement solle gebrauchen lassen, und alles verschreien, was sich so nicht brauchen |16 läßt, so haben sie selbst um ein Großes Unrecht. – Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir andern vielleicht so gut, als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet ist: Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten, und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörten Umlauf der Säfte, und dabei – kluge Gedanken verleihen!« –
Ein Verhängnisvolles liegt gerade darin, daß die das Leben befruchtenden Ideen einzelner Weltanschauungen von diesem Leben ferngehalten werden durch den Glauben, ihre Verschiedenheit beweise, daß sie insgesamt subjektiv gefärbt seien durch die Vorstellungsarten ihrer Denker. Dadurch wird auf die Reden der charakterisierten Ideen-Gegner ein Schein des Rechtes geworfen. Nicht, was sie enthalten, verurteilt die Weltanschauungen der Denker zur Unfruchtbarkeit für das Leben, |17 sondern der zumeist in ihrem Gefolge auftretende Glaube, entweder müsse eine Gedankenrichtung die ganze Wirklichkeit offenbaren, oder sie seien alle nur persönlich gefärbte Ansichten. – Diese Schrift möchte zeigen, inwiefern in den Ideen einzelner Denker trotz deren Verschiedenheit die Wahrheit lebt, und nicht bloß persönlich gefärbte Ansichten.
Nur dadurch, daß man versucht zu erkennen, inwiefern die Wirklichkeit selbst in ihrem Verhältnis zum Menschen durch verschiedene Vorstellungsarten sich offenbart, ringt man sich auch zu einem begründeten Urteile hindurch über dasjenige, was aus dem Wesen des die Welt beobachtenden Denkers stammt. Man durchschaut, wie des einen Denkers Wesenheit mehr nach dem einen, die des andern mehr nach dem anderen Verhältnis der außermenschlichen (objektiven) Wirklichkeit zum Menschen hindrängt. Man sieht zunächst die scharf ausgeprägte persönliche Denkungsrichtung einer Persönlichkeit. Man ist versucht, zu glauben, deren Weltanschauung sei deshalb auch nur eine persönliche (subjektive) Vorstellungsart, weil man bemerkt, wie sie ihre Grundlagen in der persönlichen Denkrichtung hat. Erkennt man aber, wie diese persönliche Denkrichtung gerade bewirkt, daß der Denker sich auf einen bestimmten |18 Gesichtspunkt stellt, durch den sich die außermenschliche (objektive) Wirklichkeit in ein besonderes Verhältnis zu ihm stellen kann, so entwindet man sich der Verwirrung, in die man durch den Anblick der verschiedenen Weltanschauungen gebracht werden kann.
Gar mancher wird zu dem Vorgebrachten vielleicht sagen: ja, aber das ist doch alles von einem gewissen Gesichtspunkte aus ganz selbstverständlich, und deshalb ist es überflüssig, es erst vorzubringen. Aber der so sagt, wird oftmals gerade ein solcher sein, der in seinem Urteilen und Handeln überall gegen diese Anschauung von Wahrheit und Wirklichkeit verstößt.
Mit der dargestellten Ansicht soll aber nicht eine Rechtfertigung gegeben sein jeder menschlichen Meinung, die sich als Weltanschauung ansieht. Wirkliche Irrtümer, Fehlerhaftigkeit der Erkenntnisquellen, Gesichtspunkte, von denen aus nur eine umnebelte Einbildung Weltanschauungsgedanken schaffen will: alles dieses wird sich gerade in dem Lichte zeigen, zu dem diese Ansicht dringt. Indem sie zu erfahren sucht, inwiefern in voneinander abweichenden menschlichen Gedanken die eine Wirklichkeit sich offenbart, darf sie auch hoffen, einen Blick dafür zu gewinnen, wo eine menschliche |19 Meinung von der Wirklichkeit selbst zurückgewiesen wird.
Empfindet man, wie die Kräfte der Volkheit in den Denkern eines Volkes wirken, so steht diese Empfindung mit der hier ausgesprochenen Ansicht in vollem Einklange. Die Volkheit will nicht darüber entscheiden, wie ein Denker seine Gedanken gestaltet; aber sie wirkt, zusammen mit andern seinen Gesichtspunkt bestimmenden Kräften, auf das Verhältnis zum Dasein, durch das die Wirklichkeit nach der einen oder der anderen Richtung sich ihm offenbart. Sie braucht nicht sein Anschauungsvermögen zu trüben; aber sie kann sich als besonders geeignet erweisen, den ihr angehörigen Denker auf einen Platz zu stellen, auf dem er eine gewisse Vorstellungsart der für die Menschheit gemeinsamen Wahrheit entwickeln kann. Sie will ihm nicht Richter sein über die Erkenntnis; aber sie kann ihm treufördernder Berater sein auf dem Wege zur Wahrheit. Inwiefern dies von deutscher Volkheit empfunden werden kann, dafür sollten in dieser Schrift Andeutungen gegeben werden durch Schilderung einer Reihe von Persönlichkeiten, die aus dieser Volkheit aufgestiegen sind. Der Verfasser dieser Schrift hofft, man werde aus ihr seine Empfindung erkennen, daß liebevolles erkennendes Vertiefen |20 in die seelische Eigenart einer Volkheit nicht führen müsse zur Verkennung und Mißachtung des Wesens und Wertes anderer Volkheiten. Unnötig wäre zu anderer Zeit, dies besonders zu sagen. Heute ist es nötig angesichts der Gefühle, die von vielen Seiten deutschem Wesen entgegengebracht werden.
Von dem Anteil sowohl deutscher wie auch deutsch-österreichischer Persönlichkeiten am Geistesleben zu sprechen, liegt dem Verfasser dieser Schrift besonders nahe; ist er doch durch Geburt und Erziehung Deutschösterreicher, der seine ersten drei Lebensjahrzehnte in Österreich, und dann eine – bald ebenso lange – Zeit in Deutschland verlebt hat. – Wie er über die Stellung der meisten in dieser Schrift behandelten Persönlichkeiten im allgemeinen Geistesleben denkt, darüber hat er sich in seinem Buche »Die Rätsel der Philosophie« ausgesprochen. Dort Gesagtes hier zu wiederholen, lag nicht in seiner Absicht. Er kann gut verstehen, daß jemand über die Auswahl der geschilderten Persönlichkeiten anderer Ansicht sein kann als er. Aber er wollte, ohne nach irgend einer Richtung Vollständigkeit anzustreben, einfach einiges schildern, was ihm Anschauung und Lebenserfahrung geworden ist.
Berlin, im Mai 1916.
Rudolf Steiner |