Die Philosophie
Kurzverzeichnis der 35 in dieser Ausgabe enthaltenen Schriften:
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Gottesfreundschaft
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MA, 36-57
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In Johannes Tauler (1300-1361), Heinrich Soso (1295-1366) und Johannes Ruysbroeck (1293-1381) lernt man Persönlichkeiten kennen, in deren Leben und Wirken sich auf die eindringlichste Art die Seelenbewegungen zeigen, die ein Geistesweg wie derjenige des Meister Eckhart in tiefangelegten Naturen verursacht. Erscheint Eckhart wie ein Mann, der in seligem Erleben der geistigen Wiedergeburt von der Beschaffenheit und dem Wesen der Erkenntnis wie von einem Bilde spricht, das ihm gelungen ist zu malen: so stellen sich die anderen dar wie Wanderer, denen diese Wiedergeburt einen neuen Weg gezeigt hat, den sie wandeln wollen, dessen Ziel sich ihnen aber in unendliche Ferne rückt. Eckhart schildert mehr die Herrlichkeiten seines Bildes, sie die Schwierigkeiten des neuen Weges. Man muss sich völlig klar machen, wie der Mensch zu seinen höheren Erkenntnissen steht, wenn man den Unterschied von Persönlichkeiten wie Eckhart und Tauler sich vor die Seele treten lassen will. Der Mensch ist eingesponnen in die Sinnenwelt und in die Naturgesetzlichkeit, von welcher die Sinnenwelt beherrscht ist. Er ist selbst ein Ergebnis dieser Welt. Er lebt, indem ihre Kräfte und Stoffe in ihm tätig sind; ja er nimmt diese Sinnenwelt wahr und beurteilt sie nach den Gesetzen, nach denen sie und er aufgebaut sind. Wenn er sein Auge auf einen Gegenstand richtet, so stellt sich ihm nicht nur der Gegenstand als eine Summe von ineinanderwirkenden Kräften dar, die von den Naturgesetzen beherrscht sind, sondern das Auge selbst ist ein nach solchen Gesetzen |37 und von solchen Kräften aufgebauter Körper; und das Sehen geschieht nach solchen Gesetzen und durch solche Kräfte. Wären wir in der Naturwissenschaft an ein Ende gekommen, so könnten wir wohl bis in die höchsten Regionen der Gedankenbildung dieses Spiel der Naturkräfte im Sinne der Naturgesetze verfolgen. – Aber schon, indem wir dies tun, erheben wir uns über dieses Spiel. Stehen wir denn nicht über aller blossen Naturgesetzmässigkeit, wenn wir überschauen, wie wir uns selbst in die Natur eingliedern? Wir sehen mit unserem Auge nach den Gesetzen der Natur. Aber wir erkennen auch die Gesetze, nach denen wir sehen. Wir können uns auf eine höhere Warte stellen, und zugleich die Aussenwelt und uns selbst in ihrem Zusammenspiel überschauen. Wirkt da nicht eine Wesenheit in uns, die höher ist als die nach Naturgesetzen und mit Naturkräften tätige sinnlich-organische Persönlichkeit? Ist in solchem Wirken noch eine Scheidewand zwischen unserem Innern und der Aussenwelt? Was da urteilt, was sich Aufklärung verschafft, ist nicht mehr unsere Einzelpersönlichkeit; es ist vielmehr die allgemeine Weltwesenheit, welche die Schranke niedergerissen hat zwischen Innenwelt und Aussenwelt, und die nunmehr beide umspannt. So wahr es ist, dass ich noch immer derselbe Einzelne der äusseren Erscheinung nach bleibe, wenn ich in dieser Art die Schranke niedergerissen habe, so wahr ist es auch, dass ich dem Wesen nach nicht mehr dieser Einzelne bin. In mir lebt nunmehr die Empfindung, dass in meiner Seele das Allwesen spricht, das mich und alle Welt umfasst. – Solche Empfindungen leben in Tauler, wenn er sagt: »Der Mensch ist recht, als ob er drei Menschen sei, sein tierischer Mensch, wie er nach den Sinnen ist, dann sein vernünftiger Mensch, und endlich sein oberster gottförmiger Mensch ... Der eine ist der auswendige, tierische, sinnliche Mensch; der andere ist der inwendige, vernünftige Mensch, mit seinen |38 vernünftigen Kräften; der dritte Mensch ist das Gemüt, der alleroberste Teil der Seele« (vgl. W. Preger, Geschichte der deutschen Mystik, 3. Bd., S. 161). Wie dieser dritte Mensch erhaben ist über den ersten und zweiten, das hat Eckhart in den Worten gesagt: »Das Auge, durch das ich Gott sehe, das ist das gleiche Auge, mit dem Gott mich sieht. Mein Auge und Gottes Auge das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Empfinden.« Aber in Tauler lebt zugleich mit dieser eine andere Empfindung. Er ringt sich durch zu einer wirklichen Anschauung vom Geistigen und vermengt nicht fortwährend, wie die falschen Materialisten und die falschen Idealisten, das Sinnlich-Natürliche mit dem Geistigen. Wäre Tauler, mit seiner Gesinnung, Naturforscher geworden: er hätte darauf bestehen müssen, alles Natürliche, mit Einschluss des ganzen Menschen, des ersten und zweiten, rein naturgemäss zu erklären. Er hätte niemals »rein« geistige Kräfte in die Natur selbst versetzt. Er hätte nicht von einer nach Menschenmuster gedachten »Zweckmässigkeit« in der Natur gesprochen. Er wusste, dass da, wo wir mit den Sinnen wahrnehmen, keine »Schöpfungsgedanken« zu finden sind. In ihm lebte vielmehr das allerstärkste Bewusstsein davon, dass der Mensch ein bloss natürliches Wesen ist. Und da er sich nicht als Naturforscher, sondern als Pfleger des sittlichen Lebens fühlte, so empfand er den Gegensatz, der sich auftut zwischen diesem natürlichen Wesen des Menschen und dem Gottschauen, das inmitten der Natürlichkeit, auf natürliche Weise, aber als Geistigkeit entspringt. Eben in diesem Gegensatz trat ihm der Sinn des Lebens vor Augen. Als Einzelwesen, als Naturgeschöpf findet sich der Mensch. Und keine Wissenschaft kann ihm etwas anderes über dieses Leben eröffnen, als dass er ein solches Naturgeschöpf ist. Er kann als Naturgeschöpf nicht über die Naturgeschöpflichkeit hinaus. Er muss in ihr bleiben. Und doch führt ihn sein inneres Leben |39 darüber hinaus. Er muss Vertrauen haben zu dem, was ihm keine Wissenschaft der äusseren Natur geben und zeigen kann. Nennt er diese Natur das Da-Seiende, so muss er vordringen können zu der Anschauung, die das Nicht-Seiende als das Höhere anerkennt. Tauler sucht keinen Gott, der im Sinne einer Naturkraft vorhanden ist; er sucht keinen Gott, der im Sinne der Menschenschöpfungen die Welt geschaffen hätte. In ihm lebt die Erkenntnis, dass selbst der Schöpfungsbegriff der Kirchenlehrer nur idealisiertes Menschenschaffen ist. Ihm ist klar, dass Gott nicht gefunden wird, wie von der Wissenschaft Naturwirken und Naturgesetzlichkeit gefunden werden. Tauler ist sich dessen bewusst, dass wir zu der Natur als Gott nichts hinzu denken dürfen. Er weiss, dass wer, in seinem Sinne, Gott denkt, nicht mehr Gedankeninhalt denkt, als wer die Natur in Gedanken gefasst hat. Tauler will deshalb nicht Gott denken, sondern er will göttlich denken. Nicht bereichert wird die Naturerkenntnis durch das Gotteswissen, sondern verwandelt. Nicht anderes weiss der Gotteserkenner als der Naturerkenner, sondern er weiss anders. Nicht einen Buchstaben kann der Gotteserkenner zu dem Naturerkennen hinzufügen; aber durch sein ganzes Naturerkennen leuchtet ein neues Licht.
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Welche Grundempfindungen sich der Seele eines Menschen bemächtigen, der die Welt von solchen Gesichtspunkten aus betrachtet, das wird davon abhängen, wie er das Erlebnis der Seele betrachtet, das die geistige Wiedergeburt bringt. Innerhalb dieses Erlebnisses ist der Mensch ganz Naturwesen, wenn er sich im Zusammenspiel mit der übrigen Natur betrachtet; und er ist ganz Geistwesen, wenn er auf den Zustand sieht, den ihm seine Verwandlung bringt. Man kann deshalb mit gleichem Rechte sagen: der tiefste Grund der Seele ist noch natürlich, wie auch, er ist schon göttlich. Tauler betonte, seiner Sinnesweise gemäss, das erstere. Wir mögen noch |40 so tief in unsere Seele dringen, wir bleiben immer Einzelmenschen, sagte er sich. Aber doch leuchtet in dem Seelengrunde des Einzelmenschen das Allwesen auf. Tauler war beherrscht von dem Gefühle: du kannst dich von der Einzelheit nicht loslösen, dich von ihr nicht reinigen. Deshalb kann das Allwesen auch nicht in seiner Reinheit in dir zum Vorschein kommen, sondern es kann nur deinen Seelengrund bescheinen. In diesem kommt also doch nur ein Abglanz, ein Bild des Allwesens zustande. Du kannst deine Einzelpersönlichkeit so verwandeln, dass sie im Bilde das Allwesen wiedergibt; aber dieses Allwesen selbst leuchtet nicht in dir. Von solchen Vorstellungen aus kam Tauler doch zu dem Gedanken einer nie in der menschlichen Welt ganz aufgehenden, nie in sie einfliessenden Gottheit. Ja, er legt Wert darauf, nicht mit denen verwechselt zu werden, die das Innere des Menschen selbst als ein Göttliches erklären. Er sagt, die Vereinigung mit Gott »nehmen unverständige Menschen fleischlich und sprechen, sie sollten in göttliche Natur verwandelt werden; das ist aber falsch und eine böse Ketzerei. Denn auch bei der allerhöchsten innigsten Einigung mit Gott ist doch göttliche Natur und Gottes Wesen hoch, ja höher als alle Höhe; das gehet in einen göttlichen Abgrund, was da nimmer keiner Kreatur wird.« Tauler will, im Sinne seiner Zeit und im Sinne seines Priesterberufs gläubiger Katholik mit Recht genannt werden. Es liegt ihm nicht daran, dem Christentum eine andere Anschauung entgegenzusetzen. Er will dieses Christentum durch seine Anschauung nur vertiefen, vergeistigen. Er spricht wie ein frommer Priester von dem Inhalte der Schrift. Aber diese Schrift wird in seiner Vorstellungswelt doch zu einem Ausdrucksmittel für die innersten Erlebnisse seiner Seele. »Gott wirket alle seine Werke in der Seele und gibt sie der Seele; und der Vater gebiert seinen eingeborenen Sohn in der Seele, so wahrlich er ihn in der Ewigkeit gebiert, weder minder, |41 noch mehr. Was wird geboren, wenn man spricht: Gott gebiert in der Seele? Ist es ein Gleichnis Gottes, oder ist es ein Bild Gottes, oder ist es etwas Gottes? Nein, es ist weder Bild, noch Gleichnis Gottes, sondern derselbe Gott und derselbe Sohn, den der Vater in der Ewigkeit gebiert und nichts anderes, denn das minnigliche göttliche Wort, das die andere Person in der Dreifaltigkeit ist, den gebiert der Vater in der Seele ... und hievon hat die Seele also grosse und sonderliche Würdigkeit.« (Vgl. Preger, Geschichte der deutschen Mystik, 3. Bd., S. 219 f.). – Die Erzählungen der Schrift werden für Tauler das Kleid, in das er Vorgänge des inneren Lebens hüllt. »Herodes, der das Kind verjagte und töten wollte, ist ein Vorbild der Welt, welche noch dieses Kind in einem gläubigen Menschen töten will, darum soll und muss man sie fliehen, wollen wir anders das Kind in uns lebendig erhalten, das Kind aber ist die erleuchtete gläubige Seele eines jeglichen Menschen.«
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Tauler kommt es deshalb, weil er den Blick auf den natürlichen Menschen richtet, weniger darauf an, zu sagen, was wird, wenn der höhere Mensch in den natürlichen einzieht, als vielmehr, die Wege zu finden, welche die niederen Kräfte der Persönlichkeit einzuschlagen haben, wenn sie in das höhere Leben übergeführt werden sollen. Als Pfleger des sittlichen Lebens will er dem Menschen die Wege zum Allwesen zeigen. Er hat den unbedingten Glauben und das Vertrauen, dass das Allwesen in dem Menschen aufleuchtet, wenn dieser sein Leben so einrichtet, dass für das Göttliche in ihm eine Stätte ist. Niemals aber kann dieses Allwesen aufleuchten, wenn der Mensch in seiner blossen, natürlichen, einzelnen Persönlichkeit sich abschliesst. Dieser in sich abgesonderte Mensch ist in der Sprache Taulers nur ein Glied der Welt; eine einzelne Kreatur . Je mehr sich der Mensch in dieses sein Dasein als Glied der Welt einschliesst, desto weniger kann das Allwesen in ihm Platz finden. »Soll der Mensch |42 in der Wahrheit mit Gott eins werden, so müssen alle Kräfte auch des inwendigen Menschen sterben und schweigen. Der Wille muss selbst des Guten und alles Willens entbildet und willenlos werden.« »Der Mensch soll entweichen allen Sinnen und einkehren alle seine Kräfte, und kommen in ein Vergessen aller Dinge und seiner selbst.« »Denn das wahrhafte und ewige Wort Gottes wird allein in der Wüste gesprochen, wenn der Mensch von sich selbst und von allen Dingen ausgegangen ist, und ganz ledig, wüst und einsam steht.«
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Als Tauler auf seiner Höhe stand, da trat die Frage in den Mittelpunkt seines Vorstellungslebens: wie kann der Mensch sein Einzeldasein in sich vernichten, überwinden, damit er im Sinne des All-Lebens mitlebe? Wer in dieser Lage ist, dem drängen sich die Gefühle gegenüber dem Allwesen in das eine zusammen: Ehrfurcht vor diesem Allwesen, als dem, was unerschöpflich, unendlich ist. Er sagt sich: hast du welche Stufe immer erreicht; es gibt noch höhere Ausblicke, noch erhabenere Möglichkeiten. So bestimmt und klar ihm die Richtung ist, in der er seine Schritte zu bewegen hat, so klar ist ihm auch, dass er von einem Ziele nie sprechen kann. Ein neues Ziel ist nur der Anfang zu einem neuen Wege. Durch ein solches neues Ziel hat der Mensch einen Entwicklungsgrad erreicht; die Entwicklung selbst bewegt sich ins Unermessliche. Und was sie auf einer ferneren Stufe erreichen wird, weiss sie in der gegenwärtigen nie. Ein Erkennen des letzten Zieles gibt es nicht; nur ein Vertrauen in den Weg, in die Entwicklung. Für alles, was der Mensch schon erreicht hat, gibt es ein Erkennen. Es besteht in dem Durchdringen eines schon vorhandenen Gegenstandes durch die Kräfte unseres Geistes. Für das höhere Leben des Innern gibt es ein solches Erkennen nicht. Hier müssen sich die Kräfte unseres Geistes den Gegenstand selbst erst in das Vorhandensein versetzen; sie müssen ihm ein Dasein, das so ist, |43 wie das natürliche Dasein, erst schaffen. Die Naturwissenschaft verfolgt die Entwicklung der Wesen von dem einfachsten bis zu dem vollkommensten, dem Menschen selbst. Diese Entwicklung liegt als abgeschossene vor uns. Wir erkennen sie, indem wir sie mit unseren Geisteskräften durchdringen. Ist die Entwicklung beim Menschen angekommen, dann findet er keine weitere Fortsetzung vorhanden vor. Er vollzieht selbst die Weiterentwicklung. Er lebt nunmehr, was er für frühere Stufen bloss erkennt. Er schafft dem Gegenstande nach, was er für das vorhergehende nur dem geistigen Wesen gemäss nachschafft. Dass die Wahrheit nicht eins ist mit dem Vorhandenen in der Natur, sondern natürlich Vorhandenes und Nicht-Vorhandenes umspannt: davon ist Tauler ganz erfüllt in allen seinen Empfindungen. Es ist uns überliefert, dass er zu dieser Erfüllung durch einen erleuchteten Laien, einen »Gottesfreund vom Oberland« geführt worden ist. Es liegt hier eine geheimnisvolle Geschichte vor. Darüber, wo dieser Gottesfreund gelebt hat, gibt es nur Vermutungen; darüber, wer er gewesen ist, nicht einmal solche. Er soll viel von Taulers Art, zu predigen, gehört haben, und sich nach diesen Mitteilungen entschlossen haben, zu Tauler, der als Prediger in Strassburg wirkte, zu reisen, um an ihm eine Aufgabe zu erfüllen. Das Verhältnis Taulers zum Gottesfreund und den Einfluss, den dieser auf jenen ausgeübt hat, finden wir in einer Schrift dargestellt, die den ältesten Ausgaben von Taulers Predigten unter dem Titel »Das Buch des Meisters« beigedruckt ist. Darin erzählt ein Gottesfreund, in dem man den erkennen will, der zu Tauler in Beziehungen getreten ist, von einem »Meister«, als den man Tauler selbst erkennen will. Er erzählt, wie ein Umschwung, eine geistige Wiedergeburt in einem »Meister« bewirkt worden ist, und wie dieser, als er seinen Tod herankommen fühlte, den Freund zu sich rief und ihn bat, die Geschichte |44 seiner »Erleuchtung« zu schreiben, jedoch dafür zu sorgen, dass niemals jemand erfährt, von wem in dem Buche die Rede ist. Er bittet darum aus dem Grunde, weil alle die Erkenntnisse, die von ihm ausgehen, doch nicht von ihm sind. »Denn wisset, Gott hat alles durch mich armen Wurm gewirkt, das ist es auch, es ist nicht mein, es ist Gottes.« Ein wissenschaftlicher Streit, der sich an die Angelegenheit geknüpft hat, ist für das Wesen der Sache nicht von der allergeringsten Bedeutung. Es wurde von einer Seite (Denifle, Die Dichtungen des Gottesfreundes im Oberlande) zu beweisen versucht, dass der Gottesfreund niemals existiert habe, sondern dass seine Existenz erdichtet sei, und die ihm zugeschriebenen Bücher von einem anderen (Rulman Merswin) herrühren. Mit vielen Gründen hat Wilhelm Preger (Geschichte der deutschen Mystik) die Existenz, die Echtheit der Schriften und die Richtigkeit der Tatsachen, die sich auf Tauler beziehen, zu stützen gesucht. – Mir obliegt es hier nicht, mit aufdringlicher Forschung ein menschliches Verhältnis zu beleuchten, von dem derjenige, welcher die in Betracht kommenden Schriften zu lesen versteht, ganz gut weiss, dass es Geheimnis bleiben soll. (Diese in Betracht kommenden Schriften sind u. a.: Von eime eiginwilligen weltwisen manne, der von eime heiligen weltpriestere gewiset wart uffe demuetige gehorsamme 1338; Das Buch von den zwei Mannen; Der gefangene Ritter, 1349; Die geistliche stege, 1350; Von der geistlichen Leiter, 1357; Das Meisterbuch, 1369; Geschichte von zwei jungen 15jährigen Knaben.) Wenn von Tauler gesagt wird, dass mit ihm auf einer gewissen Stufe seines Lebens eine Wandlung sich vollzogen habe, wie diejenige ist, die ich nunmehr schildern will, so genügt das vollkommen. Taulers Persönlichkeit kommt dabei gar nicht mehr in Betracht, sondern eine Persönlichkeit »im allgemeinen«. Was Tauler betrifft, so geht uns nur an, dass wir seine Wandlung unter dem durch das Folgende angegebenen |45 Gesichtspunkte zu verstehen haben. Vergleichen wir sein späteres Wirken mit seinem vorhergehenden, so ist, ohne weiteres, die Tatsache dieser Wandlung gegeben. Ich lasse alle äusseren Tatsachen weg und erzähle die inneren Seelenvorgänge des »Meisters« unter »dem Einflusse des Laien«. Was sich mein Leser unter dem »Laien« und unter dem »Meister« denkt, hängt ganz von seiner Geistesart ab; was ich mir selbst darunter vorstelle, davon kann ich nicht wissen, für wen es noch in Betracht kommt. – Ein Meister belehrt seine Zuhörer über das Verhältnis der Seele zum Allwesen der Dinge. Er spricht davon, dass der Mensch nicht mehr die natürlichen, beschränkten Kräfte der Einzelpersönlichkeit in sich wirken fühlt, wenn er in den Abgrund seiner Seelentiefen hinuntersteigt. Dort spricht nicht mehr der einzelne Mensch, dort spricht Gott. Dort sieht nicht der Mensch Gott, oder die Welt; dort sieht Gott sich selbst. Der Mensch ist mit Gott eins geworden. Aber der Meister weiss, dass diese Lehre noch nicht völlig lebendig in ihm geworden ist. Er denkt sie mit dem Verstande; aber er lebt noch nicht in ihr mit jeder Faser seiner Persönlichkeit. Er lehrt also von einem Zustande, den er in sich noch nicht vollkommen durchgemacht hat. Die Schilderung des Zustandes entspricht der Wahrheit; doch ist diese Wahrheit nichts wert, wenn sie nicht Leben gewinnt, wenn sie sich nicht in der Wirklichkeit als Dasein hervorbringt. Der »Laie« oder »Gottesfreund« hört von dem Meister und seinen Lehren. Er ist von der Wahrheit, die der Meister ausspricht, nicht minder durchdrungen als dieser selbst. Aber er hat diese Wahrheit nicht als Verstandessache. Er hat sie als ganze Kraft seines Lebens. Er weiss, dass man diese Wahrheit, wenn sie von aussen angeflogen ist, selbst aussprechen kann, ohne auch nur im geringsten in ihrem Sinne zu leben. Man hat dann doch nichts anderes als die natürliche Erkenntnis des Verstandes in sich. Man spricht von dieser natürlichen Erkenntnis dann |46 so, als ob sie die höchste, mit dem Wirken des Allwesens gleiche, wäre. Sie ist es nicht, weil sie nicht in einem Leben erworben ist, das schon als ein verwandeltes, als ein wiedergeborenes an diese Erkenntnis herangetreten ist. Was man als bloss natürlicher Mensch erwirbt, das bleibt bloss natürlich, auch wenn man hinterher den Grundzug der höheren Erkenntnis in Worten ausspricht. Aus der Natur selbst heraus muss die Verwandlung vollzogen werden. Die Natur, die lebend sich bis zu einer gewissen Stufe entwickelt hat, muss durch das Leben weiterentwickelt werden; neues muss durch diese Weiterentwicklung entstehen. Nicht bloss zurückschauen auf die schon vorliegende Entwicklung darf der Mensch und das, was sich in seinem Geiste über diese Entwicklung nachbildet, als das höchste ansprechen; sondern vorschauen muss er auf Ungeschaffenes; ein Anfang eines neuen Inhalts muss seine Erkenntnis sein, nicht ein Ende des vor ihr liegenden Entwicklungsinhalts. Die Natur schreitet vom Wurm zum Säugetier, vom Säugetier zum Menschen nicht in einem begrifflichen, sondern in einem wirklichen Prozess. Der Mensch soll diesen Prozess im Geiste nicht bloss wiederholen. Die geistige Wiederholung ist nur der Anfang einer neuen wirklichen Entwicklung, die aber eine geistige Wirklichkeit ist. Der Mensch erkennt dann nicht bloss, was die Natur hervorgebracht hat; er setzt die Natur fort; er setzt seine Erkenntnis in lebendiges Tun um. Er gebiert in sich den Geist; und dieser Geist schreitet von da an fort von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe, wie die Natur fortschreitet. Der Geist beginnt einen Naturprozess auf höherer Stufe. Das Sprechen über den Gott, der sich im Innern des Menschen selbst schaut, nimmt bei dem, der solches erkannt hat, einen anderen Charakter an. Er legt wenig Wert darauf, dass eine schon erlangte Erkenntnis ihn in die Tiefen des Allwesens geführt hat; dafür gewinnt seine |47 Geistesart ein neues Gepräge. Sie entwickelt sich in der Richtung, die durch das Allwesen bestimmt ist, weiter. Ein solcher Mensch betrachtet nicht allein die Welt anders als der bloss Verständige; er lebt das Leben anders. Er spricht nicht von dem Sinn, den das Leben schon hat durch die Kräfte und Gesetze der Welt; sondern er gibt erst diesem Leben einen neuen Sinn. So wenig der Fisch das in sich hat, was auf späterer Entwicklungsstufe als Säugetier zum Vorschein kommt, so wenig hat der verständige Mensch das schon in sich, was aus ihm als höherer Mensch geboren werden soll. Könnte der Fisch sich und die Dinge um sich her erkennen: er betrachtete das Fisch-Sein als den Sinn des Lebens. Er würde sagen: das Allwesen ist gleich dem Fisch; im Fisch sieht das Allwesen sich selbst. So mag der Fisch sprechen, solange er bloss an sein verstandesmässiges Erkennen sich hält. In Wirklichkeit hält er sich nicht daran. Er geht mit seinem Wirken über sein Erkennen hinaus. Er wird zum Kriechtier und später zum Säugetier. Der Sinn, den er sich in Wirklichkeit gibt, geht über den Sinn, den ihm das blosse Betrachten eingibt, hinaus. Auch beim Menschen muss es so sein. Er gibt sich einen Sinn in der Wirklichkeit; er bleibt nicht stehen bei dem Sinne, den er schon hat, und den ihm seine Betrachtung zeigt. Das Erkennen springt über sich selbst hinaus, wenn es sich nur recht versteht. Die Erkenntnis kann nicht aus einem fertigen Gotte die Welt ableiten; sie kann nur aus einem Keime sich in der Richtung nach einem Gotte entwickeln. Der Mensch, der das begriffen hat, will nicht Gott betrachten wie etwas, das ausser ihm ist; er will Gott behandeln wie ein Wesen, welches mit ihm wandelt zu einem Ziel, das im Anfange so unbekannt ist, wie dem Fisch die Natur des Säugetiers unbekannt ist. Nicht Erkenner des verborgenen, oder sich offenbarenden, seienden Gottes will er sein, sondern Freund des göttlichen, über Sein und Nicht-Sein erhabenen göttlichen Tuns und |48 Wirkens. Ein »Gottesfreund« in diesem Sinne war der Laie, der zu dem Meister kam. Und durch ihn wurde der Meister aus einem Betrachter der Wesenheit Gottes ein »Lebendiger im Geiste«, der nicht bloss betrachtete, sondern lebte im höheren Sinn. Dieser holte nun nicht mehr Begriffe und Ideen des Verstandes aus seinem Innern, sondern diese Begriffe und Ideen drangen aus ihm hervor als lebendiger, wesenhafter Geist. Er erbaute nicht mehr bloss seine Zuhörer; er erschütterte sie. Er versenkte ihre Seelen nicht mehr in ihr Inneres; er führte sie in ein neues Leben. Symbolisch wird uns das erzählt: etwa vierzig Menschen fielen durch seine Predigt hin und waren wie tot.
Als Führer zu einem solchen neuen Leben stellt sich eine Schrift dar, über deren Verfasser nichts bekannt ist. Luther hat sie zuerst durch den Druck bekannt gemacht. Der Sprachforscher Franz Pfeiffer hat sie nach einer aus dem Jahre 1497 stammenden Handschrift neuerdings gedruckt, und zwar mit einer dem Urtext gegenüberstehenden neudeutschen Uebersetzung. Was der Schrift vorgeschickt ist, gibt ihre Absicht und ihr Ziel an: »Hier hebet der Frankfurter an und sagt gar hohe und gar schöne Dinge von einem vollkommenen Leben.« Es schliesst sich daran »die Vorrede über den Frankfurter«: »Dies Büchlein hat der allmächtige, ewige Gott ausgesprochen durch einen weisen, verständigen, wahrhaftigen, gerechten Menschen, seinen Freund, der vor Zeiten ein deutscher Herr gewesen ist, ein Priester und ein Custos in dem deutschen Herrenhaus zu Frankfurt; es lehret gar manche liebliche Erkenntnis göttlicher Wahrheit, und besonders, wie und wodurch man erkennen mag die wahrhaften, gerechten Gottesfreunde, und auch die ungerechten, falschen, freien Geister, die der heiligen Kirche gar schädlich sind.« – Man darf unter »freien Geistern« diejenigen verstehen, welche in einer Vorstellungswelt |49 leben, wie der oben beschriebene »Meister« vor seiner Verwandlung durch den »Gottesfreund«, und unter den »wahrhaften, gerechten Gottesfreunden« solche mit der Gesinnung des »Laien«. Man darf ferner dem Buch die Absicht zuschreiben, auf seine Leser so zu wirken, wie der »Gottesfreund im Oberland« auf den Meister gewirkt hat. Man kennt den Verfasser nicht. Was heisst das aber? Man weiss nicht, wann er geboren und gestorben ist, und was er innerhalb des äusserlichen Lebens getrieben hat. Dass der Verfasser über diese Tatsachen seines äusseren Lebens ein ewiges Geheimnis erstrebt hat, gehört schon zu der Art, in der er wirken wollte. Nicht das in einem bestimmten Zeitpunkte geborene »Ich« dieses oder jenes Menschen soll zu uns sprechen, sondern die Ichheit, auf deren Grund sich »die Besonderheit der Individualitäten« (im Sinne des Ausspruches Paul Asmus’, vgl. oben S. 12 f.) erst entwickelt. »Wenn Gott alle Menschen an sich nähme, die da sind und je waren, und in ihnen vermenscht würde, und sie in ihm vergottet, und geschähe es nicht auch an mir, so würden mein Fall und mein Abkehren nimmer gebessert, es geschähe denn auch in mir. Und in dieser Wiederherstellung und Besserung kann und mag und soll ich nichts dazu tun, als ein blosses lauteres Leiden, also dass Gott allein alle Dinge in mir tue und wirke, und ich leide ihn und alle seine Werke und seinen göttlichen Willen. Aber so ich das nicht leiden will, sondern mich besitze mit Eigenschaft, d. i. mit Mein und Ich, Mir, Mich und dergleichen, das hindert Gott, dass er nicht lauterlich allein und ohne Hindernis in mir sein Werk wirken kann. Darum so bleibt auch mein Fall und mein Abkehren ungebessert.« Der »Frankfurter« will nicht als Einzelner sprechen; er will Gott sprechen lassen. Dass er das doch nur als einzelne, besondere Persönlichkeit kann, weiss er natürlich; aber er ist »Gottesfreund«, das heisst, ein Mensch, der nicht durch Betrachten das Wesen des Lebens darstellen, sondern |50 durch den lebendigen Geist den Anfang einer Entwicklungsrichtung weisen will. Die Auseinandersetzungen der Schrift sind verschiedene Unterweisungen, wie man zu diesem Wege kommt. Der Grundgedanke kehrt immer wieder: der Mensch soll abstreifen alles, was mit derjenigen Anschauung zusammenhängt, die ihn als eine einzelne, besondere Persönlichkeit erscheinen lässt. Dieser Gedanke scheint nur im Hinblick auf das sittliche Leben ausgeführt; er ist, ohne weiteres, auch auf das höhere Erkenntnisleben zu übertragen. Man soll in sich vernichten, was als Besonderheit erscheint: dann hört das Sonderdasein auf; das All-Leben zieht in uns ein. Wir können uns nicht dadurch dieses All-Lebens bemächtigen, dass wir es an uns heranziehen. Es kommt in uns, wenn wir das Einzel-Sein in uns zum Schweigen bringen. Wir haben gerade dann das All-Leben am allerwenigsten, wenn wir unser Einzeldasein so betrachten, als wenn in ihm schon das All ruhte. Dies geht erst dann in dem Einzeldasein auf, wenn dieses Einzeldasein nicht für sich in Anspruch nimmt, etwas zu sein. Dieses Beanspruchen des Einzeldaseins nennt die Schrift das »Annehmen«. Durch das »Annehmen« macht es sich das »Ich« unmöglich, dass das All-Ich in es einzieht. Das Ich setzt sich dann als Teil, als Unvollkommenes an die Stelle des Ganzen, des Vollkommenen. »Das Vollkommene ist ein Wesen, das in sich und in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen hat, und ohne das und ausser dem kein wahres Wesen ist, und in dem alle Dinge ihr Wesen haben; denn es ist aller Dinge Wesen und ist in sich selber unwandelbar und unbeweglich, und verwandelt und bewegt alle anderen Dinge. Aber das Geteilte und Unvollkommene ist das, was aus diesem Vollkommenen entsprungen ist, oder wird, recht wie ein Glanz oder ein Schein, der da ausfliesst aus der Sonne oder aus einem Lichte und scheint etwas, dies oder das. Und das heisst Kreatur, und dieser Geteilten aller ist |51 keins das Vollkommene. Also ist auch das Vollkommene der Geteilten keins. ... Wenn das Vollkommene kommt, so verschmäht man das Geteilte. Wann kommt es aber? Ich spreche: wenn es, sofern es möglich ist, erkannt, empfunden und geschmeckt wird in der Seele; denn der Mangel liegt gänzlich in uns und nicht in ihm. Denn gleich wie die Sonne die ganze Welt erleuchtet und dem einen ebenso nahe ist wie dem anderen, so sieht sie doch ein Blinder nicht. Aber das ist kein Gebrechen der Sonne, sondern des Blinden. ... Soll mein Auge etwas sehen, so muss es gereinigt werden, oder sein von allen anderen Dingen. ... Nun möchte man sprechen: sofern es nun unerkenntlich und unbegreiflich ist von allen Kreaturen, und die Seele nun eine Kreatur ist, wie mag es dann in der Seele erkannt werden? Antwort: darum spricht man, die Kreatur soll als Kreatur erkannt werden.« Das heisst so viel, als alle Kreatur soll als Kreatürlichkeit und Geschaffenheit angesehen werden, und nicht, wodurch dies Erkennen unmöglich ist, als Ichheit und Selbstheit sich betrachten. »Denn in welcher Kreatur dies Vollkommene erkannt werden soll, da muss Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren und zu nichte werden.« (1. Kapitel der Schrift des Frankfurters.) Die Seele muss also in sich sehen, da findet sie ihre Ichheit, ihre Selbstheit. Bleibt sie dabei stehen, so scheidet sie sich von dem Vollkommenen ab. Betrachtet sie ihre Ichheit nur als eine ihr gleichsam geliehene und vernichtet sie im Geiste dieselbe, so wird sie von dem Strom des All-Lebens, der Vollkommenheit, erfasst. »Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens, kürzlich alles dessen, das man gut nennen soll, und meint, dass sie das sei oder dass es das Ihre sei oder ihr zugehöre oder dass es von ihr sei: so oft und viel das geschieht, so kehrt sie sich ab.« Es hat »die geschaffene Seele des Menschen |52 zwei Augen. Das eine ist die Möglichkeit, zu sehen in die Ewigkeit; das andere, zu sehen in die Zeit und in die Kreatur.« »Der Mensch sollte also gar frei ohne sich selbst stehen und sein, das ist ohne Selbstheit, Ichheit, Mir, Mein, Mich und desgleichen, also dass er sich und des Seinen so wenig suchte und meinte in allen Dingen, als ob es nicht wäre; und sollte auch also wenig von sich selber halten, als ob er nicht wäre, und als ob ein anderer alle seine Werke getan hätte.« (15. Kapitel.) Auch bei dem Verfasser dieser Sätze muss man damit rechnen, dass der Vorstellungsgehalt, dem er durch seine höheren Ideen und Empfindungen eine Richtung gibt, derjenige eines gläubigen Priesters im Sinne seiner Zeit ist. Hier handelt es sich nicht um den Vorstellungsinhalt, sondern um die Richtung, nicht um die Gedanken, sondern um die Geistesart. Wer nicht wie er in christlichen Dogmen, sondern in Vorstellungen der Naturwissenschaft lebt, prägt andere Gedanken seinen Sätzen ein; aber er weist mit diesen anderen Gedanken nach derselben Richtung hin. Und diese Richtung ist die, welche zur Ueberwindung der Selbstheit durch diese Selbstheit selber führt. Dem Menschen leuchtet in seinem Ich das höchste Licht. Aber dieses Licht gibt seiner Vorstellungswelt nur den rechten Widerschein, wenn er gewahr wird, dass es nicht sein Selbstlicht ist, sondern das allgemeine Weltlicht. Es gibt daher keine wichtigere Erkenntnis als die Selbsterkenntnis; und es gibt zugleich keine, die so vollkommen über sich selbst hinausführt. Wenn das »Ich« sich recht erkennt, so ist es schon kein »Ich« mehr. In seiner Sprache drückt das der Verfasser der in Rede stehenden Schrift so aus: »Denn Gottes Eigenschaft ist ohne dies und ohne das und ohne Selbstheit und Ichheit; aber der Kreatur Natur und Eigen ist, dass sie sich selber und das Ihre, und das »dies« und »das« sucht und will; und in all dem, was sie tut oder lässt, will sie ihren Frommen und Nutzen empfangen. Wo nun die Kreatur |53 oder der Mensch sein Eigen und seine Selbstheit und sich selbst verliert, und von sich selbst ausgeht, da geht Gott ein mit seinem Eigen, das ist mit seiner Selbstheit.« (24. Kapitel.) Der Mensch steigt von einer Anschauung über sein »Ich«, die ihm dieses als sein Wesen erscheinen lässt, zu einer solchen empor, die es ihm als blosses Organ zeigt, in dem das Allwesen auf sich wirkt. Innerhalb des Vorstellungskreises unserer Schrift heisst das: »Kann der Mensch dazu gelangen, dass er Gottes ebenso zugehörig ist, wie die Hand des Menschen diesem zugehörig ist, dann lasse er sich genügen und suche nicht weiter.« (54. Kapitel.) Das soll nicht heissen, der Mensch soll in einem gewissen Punkte seiner Entwicklung stehen bleiben, sondern er soll, wenn er so weit ist, wie in obigen Worten angedeutet ist, nicht weiter Untersuchungen über die Bedeutung der Hand anstellen, sondern vielmehr die Hand gebrauchen, auf dass sie dem Körper, dem sie gehört, Dienste leiste. –
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Heinrich Suso und Johannes Ruysbroek hatten eine Geistesart, die man als Genialität des Gemüts bezeichnen darf. Ihr Gefühl wird von etwas Instinktartigem dahin gezogen, wohin Eckharts und Taulers Gefühle durch höheres Vorstellungsleben geführt worden sind. Inbrünstig wendet sich Susos Herz nach einem Urwesen, das den einzelnen Menschen ebenso umfasst wie die ganze übrige Welt, und in dem er, sich selbst vergessend, aufgehen will wie ein Wassertropfen in dem grossen Ozean. Er redet von diesem seinem Sehnen nach dem Allwesen nicht wie von etwas, das er mit Gedanken umspannen will; er redet davon wie von einem Naturtrieb, der seine Seele trunken macht nach Vernichtung ihres Sonderdaseins und nach dem Wiederaufleben in der Allwirksamkeit des unendlichen Wesens. »Zu dem Wesen kehre deine Augen in seiner lauteren blossen Einfältigkeit, dass du fallen lassest dies und das teilhaftige Wesen. Nimm allein Wesen an sich selbst, das unvermischt sei |54 mit Nichtwesen; denn alles Nichtwesen leugnet alles Wesen; ebenso tut das Wesen an sich selbst, das leugnet alles Nichtwesen. Ein Ding, das noch werden soll, oder gewesen ist, das ist jetzt nicht in wesentlicher Gegenwärtigkeit. Nun kann man vermischtes Wesen oder Nichtwesen nicht erkennen, denn mit einem Gemerk des alligen Wesens. Denn so man ein Ding will verstehen, so begegnet der Vernunft zuerst Wesen, und das ist ein alle Dinge wirkendes Wesen. Es ist nicht ein zerteiltes Wesen dieser oder der Kreatur; denn das geteilte Wesen ist alles vermischt mit etwas Anderheit einer Möglichkeit, etwas zu empfangen. Darum, so muss das namenlose göttliche Wesen in sich selbst ein alliges Wesen sein, das alle zerteilte Wesen erhält mit seiner Gegenwärtigkeit.« So spricht Suso in der Selbstbiographie, die er im Verein mit seiner Schülerin Elsbet Stäglin niedergeschrieben hat. Auch er ist ein frommer Priester und lebt ganz in dem christlichen Vorstellungskreis. Er lebt so darin, als ob es ganz undenkbar wäre, dass man mit seiner Geistesrichtung in einer anderen Geisteswelt leben könnte. Aber auch von ihm gilt, dass man doch mit seiner Geistesrichtung einen anderen Vorstellungsinhalt verbinden kann. Es spricht dafür deutlich, wie für ihn der Inhalt der christlichen Lehre zum inneren Erlebnis, sein Verhältnis zu Christus zu einem solchen zwischen seinem Geiste und der ewigen Wahrheit in rein ideellgeistiger Weise wird. Er hat ein »Büchlein von der ewigen Weisheit« verfasst. In diesem lässt er die »ewige Weisheit« zu ihrem »Diener«, also wohl zu ihm selbst, sprechen: »Erkennest du mich nicht? Wie bist du sogar niedergesunken, oder ist dir von Herzenleid die Besinnung geschwunden, mein zartes Kind? Ich bin es doch, die barmherzige Weisheit, die da den Abgrund der grundlosen Barmherzigkeit, welcher allen Heiligen dennoch verborgen ist, weit aufgeschlossen hat, dich und alle reuige Herzen gütlich zu empfangen; ich bin es, die |55 süsse, ewige Weisheit, die da arm und elend ward, dass ich dich zu deiner Würde wiederbrächte; ich bin es, die den bittern Tod erlitt, dass ich dich wieder lebendig machte! Ich stehe hier bleich und blutig und minniglich, als ich stand an dem hohen Galgen des Kreuzes, zwischen dem strengen Gerichte meines Vaters und dir. Ich bin es, dein Bruder; lug, ich bin es, dein Gemahl! Ich habe also gar vergessen alles, das du je wider mich tatest, als ob es nie geschehen wäre, so du dich nun gänzlich zu mir kehrest und dich nicht mehr von mir scheidest.« Alles Körperlich-Zeitliche in der christlichen Weltvorstellung ist für Suso, wie man sieht, zu einem geistig-idealischen Prozess im Innern seiner Seele geworden. – Aus einigen Kapiteln der erwähnten Lebensbeschreibung Susos könnte es scheinen, als ob er nicht durch die blosse Betätigung der eigenen Geisteskraft, sondern durch äusserliche Offenbarungen, durch geisthafte Visionen sich hätte leiten lassen. Doch spricht er auch seine Meinung darüber ganz klar aus. Zur Wahrheit gelangt man nur durch Vernünftigkeit, nicht durch irgend welche Offenbarung. »Den Unterschied zwischen lauterer Wahrheit und zweifeligen Visionen in bekennender Materie ... will ich dir auch sagen. Ein mittelloses Schauen der blossen Gottheit, das ist rechte lautere Wahrheit, ohne allen Zweifel; und eine jede Vision, je vernünftiger und bildloser sie ist, und derselben blossen Schauung je gleicher, umso edler ist sie.« – Auch der Meister Eckhart lässt darüber keinen Zweifel, dass er die Anschauung ablehnt, die in körperlich-räumlichen Gebilden, in Erscheinungen, die man wie sinnliche wahrnehmen kann, das Geistige schauen will. Geister von der Art Susos und Eckharts sind somit Gegner einer Auffassung, wie sie sich in dem im 19. Jahrhundert zur Entwicklung gekommenen Spiritismus zum Ausdruck bringt.
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Johannes Ruysbroek, der belgische Mystiker, |56 ging die gleichen Wege wie Suso. Sein geistiger Weg fand einen lebhaften Angreifer in Johannes Gerson (geb. 1363), der eine Zeitlang Kanzler der Pariser Universität war und eine bedeutsame Rolle beim Konstanzer Konzil spielte. Es wirft einiges Licht auf das Wesen derjenigen Mystik, die in Tauler, Suso und Ruysbroek ihre Pfleger fand, wenn man sie vergleicht mit den mystischen Bestrebungen Gersons, der in Richard v. St. Viktor, Bonaventura u. a. Vorgänger hatte. – Ruysbroek selbst kämpfte gegen diejenigen, die er zu den ketzerischen Mystikern zählte. Als solche galten ihm alle die, welche durch ein leichtfertiges Verstandesurteil alle Dinge für den Ausfluss eines Urwesens halten, die also in der Welt nur eine Mannigfaltigkeit sehen und in Gott die Einheit dieser Mannigfaltigkeit. Zu ihnen rechnete sich Ruysbroek nicht, denn er wusste, dass man nicht durch Betrachtung der Dinge selbst zum Urwesen kommen könne, sondern nur dadurch, dass man sich von dieser niederen zu einer höheren Betrachtungsweise erhebe. Ebenso wandte er sich gegen diejenigen, welche in dem einzelnen Menschen, in seinem Sonderdasein (in seiner Kreatürlichkeit), ohne weiteres auch seine höhere Natur sehen wollten. Nicht wenig beklagte er auch den Irrtum, der alle Unterschiede in der Sinnenwelt verwischt, und leichten Sinnes sagt, nur dem Scheine nach seien die Dinge verschieden, dem Wesen nach seien sie alle gleich. Das wäre für eine Denkweise, wie diejenige Ruysbroeks ist, gerade so, als wenn man sagte: Dass die Bäume einer Allee für unser Sehen in der Entfernung zusammenlaufen, ginge uns nichts an. Sie seien in Wirklichkeit überall gleich weit entfernt, deshalb müssten unsere Augen sich gewöhnen, richtig zu sehen. Aber unsere Augen sehen richtig. Dass die Bäume zusammenlaufen, beruht auf einem notwendigen Naturgesetz; und wir haben nichts gegen unser Sehen einzuwenden, sondern im Geiste zu erkennen, warum wir so sehen. |57 Auch der Mystiker wendet sich nicht ab von den sinnlichen Dingen. Als sinnliche nimmt er sie hin, wie sie sind. Und ihm ist auch klar, dass sie durch kein Verstandesurteil anders werden können. Aber er geht im Geiste über Sinne und Verstand hinaus, und dann erst findet er die Einheit. Sein Glaube ist ein unerschütterlicher, dass er sich zum Schauen dieser Einheit entwickeln kann. Deshalb schreibt er der menschlichen Natur den göttlichen Funken zu, der in ihm zum Leuchten, zum Selbstleuchten gebracht werden kann. Anders Geister von der Art Gersons. Sie glauben nicht an dieses Selbstleuchten. Für sie bleibt das, was der Mensch schauen kann, immer ein Aeusseres, das von irgendeiner Seite auch äusserlich an sie heran kommen muss. Ruysbroek glaubte, dass die höchste Weisheit dem mystischen Schauen aufleuchten müsse; Gerson glaubte nur, dass die Seele einen äusseren Lehrgehalt (den der Kirche) beleuchten könne. Für Gerson war Mystik nichts anderes, als ein warmes Gefühl haben für alles, was in diesem Lehrgehalt geoffenbart ist. Für Ruysbroek war sie ein Glaube, dass aller Lehrgehalt in der Seele auch geboren wird. Deshalb tadelt Gerson an Ruysbroek, dass dieser sich einbilde, er besitze nicht bloss das Vermögen mit Klarheit das Allwesen zu schauen, sondern in diesem Schauen drücke sich selbst eine Tätigkeit des Allwesens aus. Ruysbroek konnte von Gerson eben nicht verstanden werden. Beide sprachen von zwei ganz verschiedenen Dingen. Ruysbroek hat das Seelenleben im Auge, das sich in seinen Gott einlebt; Gerson nur ein Seelenleben, das den Gott lieben will, den es in sich selbst nimmer zu leben vermag. Wie so viele, kämpfte auch Gerson gegen etwas, das ihm nur fremd war, weil er es in der Erfahrung nicht fassen konnte 1). |
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1) In meinen Schriften wird man in verschiedener Art über »Mystik« gesprochen finden. Man wird den scheinbaren Widerspruch, den manche Persönlichkeiten darin finden wollen, aufgeklärt finden in den Anmerkungen zur Neuauflage meiner »Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« S. 110.
Die Mystik im Aufgange
des neuzeitlichen Geisteslebens